Ein ironisch-warmer Jahresrückblick und -ausblick auf das neue Jahr aus der kollektiven Radfahrer-Seele (2025/2026).
Am 31. Dezember, irgendwo zwischen Raclette-Dunst und Feuerwerks-Verbot‑oder‑Nicht‑Verbot, passiert etwas Merkwürdiges: Menschen, die sonst bei Gegenwind grundsätzlich „Trainingseffekt“ murmeln, sitzen plötzlich still. Sie schauen nicht aus dem Fenster. Sie schauen nicht auf den Tisch. Sie schauen auf Zahlen im Jahresrückblick.
Nicht auf Lottozahlen. Auf Strava.
Denn Radfahrerinnen und Radsportler feiern den Jahreswechsel nicht nur mit Sekt und Bleigießen, sondern auch mit der großen Jahresendprüfung: dem digitalen Blick in den Spiegel, der exakt sagt, wie oft man in den Spiegel geschaut hat. Und wie viele Kilometer dabei entstanden sind. Und ob diese Kilometer wirklich zählen, wenn man zwischendurch bei der Bäckerei stand, um „kurz“ eine Apfeltasche zu „tanken“.
Das ist der Moment, in dem wir alle gleich sind: Gravel-Ästheten, Rennrad-Aerodynamiker, Trekkingtouristen, Pendelheldinnen, E‑Bike‑Genießer, Bahnfahrer, Bikepacker, XC‑Künstler, Oma‑mit‑Korb und der eine Triathlet, der immer sagt „ich fahr ja nur locker“.
Silvester ist unsere inoffizielle Preisverleihung.
1. Die heilige Stunde der Auswertung
Es beginnt immer harmlos: „Ich schau’ nur mal kurz in die Statistik.“
Das ist der Satz, der in Radfahrerhaushalten ungefähr so vertrauenswürdig ist wie „Ich kaufe nur einen Schlauch“ im Online-Shop.
Und dann: Jahresrückblick 2025.
Kilometer. Höhenmeter. Fahrzeit. Längste Tour. Streaks. PRs. Segmente. Watt. Herzfrequenzen. „Relative Effort“. Und irgendwo ganz unten – das eigentlich wichtigste Feld – die Anzahl der Fahrten, die man als „Recovery Ride“ betitelt hat, obwohl die Beine am nächsten Tag den Betriebsrat eingeschaltet haben.
Man scrollt.
Man nickt.
Man zuckt.
Man lächelt.
Man schluckt.
Die meisten von uns haben zwei Jahresrückblicke:
- den, den wir wirklich gefahren sind,
- und den, den wir im Kopf gefahren wären, wenn Arbeit, Wetter, Familie, Vernunft und der Sinn des Lebens nicht ständig mitreden würden.
Und da liegt schon die erste Ironie: Radfahrer messen das Jahr nicht in Monaten, sondern in Phasen.
- Frühjahr: „Jetzt geht’s los!“
- Sommer: „Warum ist es immer noch anstrengend?“
- Herbst: „Base Miles, Baby.“
- Winter: „Rolle ist auch Radfahren.“ (Und alle wissen: Das ist eine Lüge, die man sich aus Liebe erzählt.)
2. Die großen Ziele, die wir hatten (und die kleinen Ausreden, die wir lieben)
Jedes Jahr beginnt mit einer Liste, die klingt wie ein Motivationsposter in einer Physio-Praxis:
- „10.000 Kilometer!“
- „Gewicht runter!“
- „Alpenüberquerung!“
- „Endlich wieder Rennen!“
- „FTP rauf!“
- „KOM holen!“
- „Mehr Krafttraining!“
- „Mehr Mobility!“
- „Weniger Süßes!“
- „Mehr Schlaf!“
Radfahrer sind die einzigen Menschen, die „mehr schlafen“ als sportliches Ziel definieren und dann eine Stunde zu spät ins Bett gehen, weil sie noch „kurz“ Trainings- und Ernährungstipps auf ilovecycling.de recherchieren.
Und wenn der Jahresrückblick kommt, sind wir im Kopf alle kurz Buchhalter:
„Also… 7.432 Kilometer. Das ist ja… eigentlich… also… das ist super! Wenn man bedenkt, wie viel… äh… Wind.“
Wind ist übrigens das Schweizer Taschenmesser der Ausreden. Passt immer. Auch bei Rückenwind.
Dann gibt es die Klassiker:
- Das Wetter: zu nass, zu heiß, zu kalt, zu windig, zu sonnig (Blendung ist Performance‑Killer!), zu wolkig (mental schwierig), zu klar (man sieht die Steigungen).
- Die Zeit: Arbeit. Familie. Termine. Und plötzlich ist es 20:47 Uhr.
- Die Gesundheit: ein Zwicken, ein Zerren, ein „komisches Gefühl“, das wir erst ignorieren, dann googeln und danach überzeugt sind, dass wir nie wieder Treppen steigen werden.
- Das Material: „Ich wäre gefahren, aber…“ (hier bitte einsetzen: Schaltauge, Tubeless, Ladegerät, Bremsbeläge, Kette, „irgendwas mit dem Di2‑Signal“, oder einfach „das Rad hatte keine Lust“).
Am Ende bleibt die Wahrheit: Wir haben Ziele verpasst. Und trotzdem sind wir gefahren. Und das ist eigentlich die ganze Magie.
Denn Radfahrer scheitern selten daran, dass sie gar nichts tun. Sie scheitern daran, dass sie zu viel wollen.
Wir planen das Jahr wie eine Grand Tour:
Januar: Grundlagen.
Februar: Grundlagen.
März: Grundlagen.
April: Formaufbau.
Mai: Peak.
Juni: Peak.
Juli: Peak.
August: Peak.
September: Peak.
Oktober: Saisonabschluss.
November: locker.
Dezember: locker.
Und dann wundern wir uns, warum unser Körper irgendwann höflich fragt, ob er auch mal „Mensch“ sein darf und nicht nur ein Projekt.
3. Die Momente, die Strava nie ganz versteht
Strava versteht vieles. Aber nicht alles.
Strava versteht nicht:
- den Moment, wenn du nach einer miesen Woche aufs Rad steigst und nach zehn Minuten merkst, dass dein Kopf wieder leiser wird.
- das Gefühl, wenn die Luft nach Regen riecht und du trotzdem hinausfährst, weil es „heute sein muss“.
- das erste Mal kurze Hose nach dem Winter (ein Ritual, irgendwo zwischen Triumph und Hybris).
- die stille Freundschaft, wenn jemand neben dir fährt und ihr beide nichts sagt, weil die Steigung das Gespräch übernimmt.
- das Lächeln, wenn du heimkommst, nass bis auf die Seele – und trotzdem denkst: „Genau das.“
Strava kann nicht in den Tassen zählen, wie oft wir nach der Ausfahrt „nur kurz“ im Café waren und danach „aus prinzipiellen Gründen“ ein zweites Stück Kuchen gegessen haben, weil der Körper „Regeneration“ verlangt.
(Und der Körper hat immer recht. Zumindest, wenn es um Kuchen geht.)
Und dann diese goldenen Augenblicke, die man nie plant:
Du fährst eine Strecke, die du schon hundertmal gefahren bist – und plötzlich sieht sie aus, als wäre sie neu. Weil das Licht anders fällt. Weil der Wind endlich mal freundlich ist. Oder weil du zum ersten Mal seit Wochen nicht gegen deine eigene To‑do‑Liste antrittst.
Das sind die Kilometer, die nicht nur in die Beine, sondern ins Leben gehen.
4. Der Mythos vom „lockeren Jahresabschlussride“
Es gibt in Radfahrerkreisen eine Tradition, die so alt ist wie das Wort „Aero“: den „lockeren Jahresabschlussride“.
Das ist ein Ride, der ungefähr so „locker“ ist wie ein Familienfoto mit Kleinkindern und Hund.
Man schreibt es vorher in die Gruppe:
„Morgen ganz entspannt, nur rollen, Kaffee, bisschen quatschen.“
Am nächsten Tag stehen alle da, geschniegelt, geschniegelt‑bis‑zum‑Kettenwachs, die Räder frisch gewaschen, die Beine überraschend motiviert. Irgendjemand sagt: „Ich habe heute nichts auf dem Plan.“
Und dann passiert es: Ein Segment.
Es taucht auf wie ein Bossgegner in einem Videospiel. Zufällig. Unvermeidlich. Und plötzlich fahren Menschen, die gerade noch über Raclette gesprochen haben, als ginge es um die letzte freie Unterkunft am Gardasee.
Der Jahresabschlussride endet dann entweder:
A) mit einem neuen PR und dem Satz „War doch locker“,
oder
B) mit dem Satz „Ich glaube, ich werde krank“, während man auf dem Heimweg die Zunge in den Nacken hängt und so tut, als wäre das ein neues Atemtraining.
5. Vorsätze 2026: Die schönsten Lügen, die wir uns selbst schenken
Und dann, wenn das Jahr in den letzten Minuten tickt, wenn irgendwo schon eine Rakete knallt und jemand „Happy New Year!“ zu früh ruft, kommt er: der Moment der guten Vorsätze.
Radfahrer-Vorsätze sind eine eigene Literaturgattung. Sie sind poetisch. Sie sind ehrgeizig. Sie sind – in vielen Fällen – komplett optimistisch.
Hier eine Auswahl dessen, was wir uns für 2026 vornehmen, kollektiv, feierlich, mit ernstem Blick und einem Finger, der heimlich schon den „Kaufen“-Button bei einem neuen Flaschenhalter streichelt:
- „Ich fahre mehr Grundlagen.“
(Übersetzung: Ich fahre so lange locker, bis ich ein Segment sehe.) - „Ich mache wirklich Krafttraining.“
(Übersetzung: Ich mache zwei Wochen Krafttraining und erzähle es allen.) - „Ich dehne mich nach jeder Ausfahrt.“
(Übersetzung: Ich dehne mich, wenn ich dran denke, was meistens im Mai ist.) - „Ich schlafe mehr.“
(Übersetzung: Ich lese weniger Reifendruck-Threads. Vielleicht.) - „Ich esse bewusster.“
(Übersetzung: Ich kaufe Gel in Bio.) - „Ich fahre öfter ohne Datenaufzeichnung.“
(Übersetzung: Ich fahre einmal ohne Daten und fühle mich nackt.) - „Ich kaufe dieses Jahr wirklich nichts Unnötiges.“
(Übersetzung: Ich kaufe nur sinnvolle Dinge. Sinnvoll ist alles, was glänzt.) - „Mehr Gesundheit, mehr Wohlbefinden.“
(Und das ist der einzige Vorsatz, der kein Witz ist.)
Denn bei allem Ironie‑Glitzer: Wir wissen genau, warum wir das machen.
Nicht wegen KOMs. Nicht wegen Watt. Nicht wegen Jahreskilometern (okay, ein wenig). Sondern weil Radfahren uns in ein besseres Verhältnis zu uns selbst bringt.
Es macht uns klarer. Ruhiger. Manchmal auch gnädiger.
Und wenn wir ehrlich sind, ist der wichtigste Jahresrückblick nicht die Statistik, sondern der Satz:
„Ich hab’s geschafft, immer wieder aufzusteigen.“
Auch nach schlechten Tagen. Auch nach Müdigkeit. Auch nach dem „Ach komm, heute nicht“.
Vor allem nach dem „Ach komm, heute nicht“.
6. Auf ein neues Jahr – mit allem, was dazugehört
Wenn 2026 beginnt, beginnt es für uns Radfahrer nicht mit einem Knall, sondern mit einem leisen Klick: dem Einrasten des Pedals. Dem ersten Rollgeräusch. Dem ersten Atemzug in kalter Luft. Dem ersten Gedanken: „Okay. Wieder von vorn. Aber dieses Mal… diesmal wird’s richtig.“
Und dann wird es nicht „richtig“.
Es wird echt.
- Mit Regenfahrten, die man später stolz „Character Building“ nennt.
- Mit Rückenwindtagen, die man nie verdient hat, aber dankend nimmt.
- Mit Trainingsplänen, die man zu 83 % einhält und zu 100 % darüber spricht.
- Mit Freundschaften, die auf zwei Rädern entstehen.
- Mit der Erkenntnis, dass Gesundheit nicht „perfekt“ ist, sondern „dranbleiben“.
- Und dass Wohlbefinden manchmal einfach bedeutet: raus, bewegen, heimkommen, lächeln.
Also stoßen wir an – auf 2026.
- Auf neue Ziele. Auf alte Strecken. Auf bessere Pausen.
- Auf weniger Druck und mehr Freude.
- Auf weniger „müsste“ und mehr „will“.
Und falls du gleich noch einmal deine Strava‑Zahlen checkst:
Mach es ruhig.
Aber vergiss nicht:
Die wichtigsten Kilometer sind die, bei denen du unterwegs gemerkt hast, dass du gerade wirklich da bist.
Guten Rutsch – und immer genug Luft in den Reifen.
































