Der Teaser vorweg

Es geht nicht um Wettbewerb! Es geht nicht darum, Rekorde aufzustellen oder Körperzustände auf höhere Ebenen zu transformieren. Sondern darum, Euch in einer artgerechten Umgebung auf Betriebstemperatur zu bekommen – und zu halten! Hierfür verwenden wir einen Haushaltsgegenstand: das Fahrrad.

Inhalt

1. Eine Distanz für die Grundlagenausdauer

2. Ein vernünftiges Rad, Bike-Fitting und Ausrüstung

3. Straßenverhältnisse und Verkehrssituationen

4. Das Wetter

5. Der innere Schweinehund

6. Last but not least private Details mit Hinweisen

1. Eine Distanz für die Grundlagenausdauer

Regelmäßiges Radfahren bringt Euer Herz-Kreislauf-System auf Vordermann und schont die Gelenke! Eine gesunde Alternative für alle, die noch nie den Drang hatten – oder inzwischen keine Lust mehr verspüren –, mit Abertausenden anderer Obsessiver alle erdenklichen Laufevents zu bevölkern, welche mittlerweile Mainstream sind. Das x-te Paar Sportschuhe durchgelaufen? Vielleicht ist genau jetzt der richtige Moment, neue Aktivitäten in Angriff zu nehmen.

Radfahren ist ideal für viele Ältere sowie körperlich und gesundheitlich Gehandicapte, wenn insbesondere empfindliche Achillessehnen oder Knieprobleme sonstigen Sport wirksam verhindern. Für Betroffene von dauerhaften Atemwegserkrankungen kann Radfahren eine wichtige Ergänzung zur Therapie sein. Das kräftigt die Atemmuskulatur, und eine bessere Ventilation der Lunge schützt vor Infekten.

Bei Bürotätigkeiten, besonders im Sitzen, atmen viele Menschen zu flach, die vorhandene Lungenkapazität wird kaum genutzt. Etliche geraten regelmäßig in eine E-Mail-Apnoe, eine Stressreaktion, verbunden mit Atemstillstand, wenn neue Nachrichten auf dem Computer oder auf dem Smartphone aufploppen. So etwas ist auf Dauer nicht gesund. Auch hier verschafft das Fahrrad den nötigen Ausgleich. Die Lunge profitiert vom Rhythmus des Radelns und wird gleichmäßig mit Sauerstoff gefüllt. Wenn man das Tempo nicht gleich überzieht, übernimmt im vegetativen Nervensystem der Parasympathikus die Kontrolle, das reduziert den Stress.

Und falls Ihr bisher der organisierten Transpiranz erfolgreich entkommen seid: Radfahren ist für jedermann eine niederschwellige „Einstiegsdroge“ in den Sport – denn wer hat hierzulande kein Fahrrad in der Garage oder im Keller?

Wer mit den klassischen Urlaubsregionen in der Welt besser vertraut ist als mit der Heimat, der findet im Radfahren den Schlüssel, die eigene Gegend neu zu entdecken. Radfahren berührt sämtliche Aspekte des Lebens. Es ist mehr als eine Art, sich fortzubewegen. Es ist eine Einstellung.

Und wo ich gerade die Metaphysik streife, kommt noch eine Grenzerfahrung obendrauf: Radfahren bringt Euch in den „Flow“. Was der Flow ist? Es ist ein Glücksgefühl, welches sich im völligen Aufgehen in einem Zustand oder in einer Tätigkeit einstellt. Vielen offenbart sich der Flow in Bewegung, beim Laufen oder beim Fahren, wenn die Landschaft an einem vorbeizieht, man seinen Gedanken nachhängt, und man in diesem Zustand verharren möchte. Die Schöpfung hat in ihrer allumfassenden Weisheit vorgesorgt: Wer die Höhle verlässt und dem Essen für die Sippe nachstellt, erfährt mit einem Hochgefühl die Befriedigung eines von Mutter Natur implementierten Bewegungsdrangs.

Körper und Geist des Homo sapiens haben sich über einige hunderttausend Jahre aufs Jagen von Großwild spezialisiert. Wenn man die letzten zwölftausend Jahre Sesshaftigkeit dazu in Relation setzt, kann sich daran noch nicht viel geändert haben. Zur besseren Illustration stelle man sich ein Pferd vor. Pferde, die den ganzen Tag in der Box stehen und nicht auf die Weide dürfen, werden krank und psychotisch. Dann kommen der Tierarzt und der Pferdeflüsterer. Nicht anders ergeht es Menschen, die ins Büro gesperrt werden. Langes Sitzen führt zu körperlichen Beschwerden, und so mancher geht buchstäblich die Wände hoch. Der kurze Freigang in der Mittagspause ist keine Kompensation für einen Körper, der für die Jagd auf Mammuts konditioniert ist.

Aus der Sportliteratur, Videobeiträgen und Gesprächen mit erfahrenen Rennradlern habe ich folgende Eckdaten extrahiert: Berufstätige Amateure sollten mindestens 5.000 km pro Jahr radeln, um eine Grundlagenausdauer zu schaffen und diese zu erhalten. Jenseits der 5.000 km beginnt der Bereich der ambitionierten Amateure, die schon mal 15.000 km pro Jahr treten. Profis liegen bei 25.000 km pro Jahr und mehr.

5.000 km für die Grundlagenausdauer können doch so schwer nicht sein! Das wären etwa 100 km pro Woche, was vielleicht nach viel aussieht. Weiter heruntergebrochen sind das 14 km am Tag – sieht schon machbarer aus! Mit Rüstzeiten für Umziehen, Rad aus der Garage holen, Zustand kontrollieren müsste man durchschnittlich eine Stunde am Tag investieren. Eine Stunde am Tag, bezogen auf vierundzwanzig Stunden, ergibt etwa 4% relatives Zeitbudget. Das sollten Berufstätige, auch diejenigen mit familiären Verpflichtungen, für die eigene Gesundheit erübrigen können. Wer seine sieben bis acht Stunden Schlaf aus der Kalkulation nehmen will, kommt auf etwa 6% relatives Zeitbudget – liest sich genauso harmlos.

Es versteht sich von selbst, dass man die 5.000 km nicht auf einem E-Bike abspult, um die Fitness zu stärken. Folgenden Satz höre ich so oder ähnlich recht oft: „Für längere Touren nehme ich mein E-Bike“. Solche Aussagen korrelieren häufig mit einem BMI deutlich über 25 bei Zeitgenossen, die ihre lieb gewordenen Gewohnheiten nicht infrage stellen. Es braucht nicht viel Menschenkenntnis, um zu wissen, dass der Ausflug mit dem E-Bike im Biergarten endet.

E-Bikes sind nicht Thema meines Erfahrungsberichts. Doch man begegnet ihnen überall, und derart häufig, dass ich hier im ersten Kapitel ein paar Sätze dazu verliere. Danach lasse ich’s dabei bewenden. Wer altersbedingt oder aus gesundheitlichen Gründen zu schwach ist, ein normales Fahrrad zu treten, für den sind E-Bikes ideal, um die Mobilität zu erhalten, ohne aufs Auto ausweichen zu müssen. Vielleicht sind E-Bikes als motorisierte Zwischenstufe sogar geeignet, Menschen an das Radfahren heranzuführen, welche bisher nur das Auto genommen und womöglich noch nie ein Fahrrad besessen haben. Wer jedoch gesund ist und die Strecke mit dem gewöhnlichen Rad schafft, der benötigt kein E-Bike. Das wäre gerade so, als ob man sich auf einen Rollator stützt, obwohl man noch laufen kann. Oder sich zu Hause einen Treppenlift einbaut, obwohl man die Stufen noch selbst hochkommt. Eine proaktive Schonhaltung bringt dem Körper mehr Schaden als Nutzen. Ohne es zu merken, wird man vom E-Bike abhängig. Mittelfristig verbaut man sich den Weg aus der Abhängigkeit zurück zum gewöhnlichen Fahrrad.

Wer keinen regelmäßigen Sport kennt und sich auch sonst nicht mehr als nötig aufrafft, baut mit dem E-Bike zwangsläufig Muskeln ab. Eines Tages wird selbst das Gehen anstrengender. Zur Entlastung über mittlere Distanzen wird dann zum E-Scooter gegriffen. Eine Abwärtsspirale. Das Ganze endet damit, dass man, wie die adipösen Passagiere an Bord des Raumschiffs Axiom im legendären Animationsfilm Wall-e, nur noch auf dem Sofa louncht, alles im Internet bestellt, und als ausgewogene Ernährung bunte Proteinshakes schlurft. Eine blühende Fantasie? Es gibt Familien, in denen ist ein solches Szenario schon zu real, um witzig zu sein.

Überdies unterschätzen ältere Menschen das Gewicht von E‑Bikes und bekommen sie eines Tages nicht mehr alleine aus dem Haus auf die Straße, auf den Radständer am Auto, oder wieder aufgestellt, wenn sie umgekippt sind. Erfahrungsgemäß kann der Mensch länger mit den Beinen treten als mit den Armen schwere Objekte heben.

Eine interessante Nische bilden Leute, die fast täglich längere Distanzen zur Arbeit radeln, in Summe typischerweise Strecken um die 10 km, manchmal bis zu 20 km. Tage mit Starkregen und extreme Wintertage abgezogen, schaffen Unverwüstliche so bis zu 4.000 km im Jahr, ohne überhaupt an Radsport im klassischen Sinn gedacht zu haben. Ich brauche nicht zu erwähnen, dass die mir bekannten Exemplare rank und schlank sind und beim Essen eher durch Disziplin auffallen.

Mein Selbstversuch dauerte ein Jahr, startete Anfang Oktober 2024 und ging bis Ende September 2025. Gewöhnliche Alltagsfahrten, etwa zum Einkaufen, zu Terminen, zu privaten Verabredungen sowie zum Sportverein, sind nicht mit erfasst. Ebenso nicht erfasst sind Zeiten auf einem Heimtrainer (Ergometer/Indoorbike). Bei Regen, Schneetreiben, oder bei allzu tiefen Temperaturen wurde das Zeitbudget auf den folgenden Tag aufaddiert. Berufliche und private Verpflichtungen sowie Urlaubstage auf Reisen, die es unmöglich machten, vorher oder nachher noch einmal aufs Rad zu steigen, sind hingegen nicht kompensiert. 

Insgesamt kamen 5.768 km Sport im Sattel zusammen, für die ich 236 Stunden benötigte. Davon 3.923 km auf dem Rennrad in 148 Stunden, und 1.845 km auf dem Tourenrad in 88 Stunden, siehe Abbildungen folgend. Zur Einordnung der Distanz ein Vergleich: von Lissabon, Portugal, sind es etwa 5.423 km Luftlinie über den Atlantik bis New York, USA. Oder ein Vergleich mit planetaren Dimensionen, um das Ergebnis mit Bedeutung aufzuladen: Der mittlere Erdradius beträgt 6.371 km und ist um nur 10% unwesentlich größer.

Rund ums Radfahren gibt es zahllose Ratgeber in der Sport- und Freizeitliteratur, und zu allen erdenklichen Details findet Ihr Tipps im Internet. Karl Valentin hat recht: „Es ist schon alles gesagt, nur noch nicht von allen“. Dabei ist die Linie zwischen ehrlicher Information und Kommerz für Laien kaum mehr erkennbar. Ist der Typ im Video ein echter Fitness-Coach, nur ein geschickter Influencer, oder etwa KI-generiert? Ist das alles selbst erlebt, oder nur Storytelling? Stehen die Markenfahrräder, die isotonischen Getränkepulver und die Proteinriegel nur zufällig im Bild, oder ist das Produktplatzierung? Wundert Ihr Euch manchmal nicht auch, warum die Sportler in den Videos und in den Ratgebern nicht nur fit sind, sondern oft auch überdurchschnittlich gut aussehen? Vielleicht nur Models? Viel ist auf Perfektion getrimmt und verliert dabei an Authentizität.

Dieser Bericht stützt sich im Wesentlichen auf meine Aufzeichnungen aus den zurückliegenden zwölf Monaten. Hinweise und Empfehlungen gründen auf realen Begebenheiten, auf so manch einer Anekdote, und sie speisen sich aus vielen tausend Kilometern Erfahrung – und ich sitze nicht erst seit gestern im Sattel. An verschiedenen Stellen blitzt ein bescheidenes „Das tut’s auch“ auf, denn gerade in der Anfangsphase ist weniger tatsächlich mehr. Motto: Keep it simple! Auch wenn es cool wäre: selbst ein Hobby-Rennradfahrer wie ich braucht keinen Top-Flitzer für über zehntausend Euro, genauso wenig wie ein Hobby-Geiger auf einer Stradivari spielen muss.

Merke: die Potenziale, die es zu heben, und die Hindernisse, die es zu überwinden gilt, liegen zu allererst in Euch selbst – und erst sehr viel später beim Equipment. 

Auf meiner 5.000 km Challenge haben sich wesentliche Einflussfaktoren herauskristallisiert, auf die ich in den folgenden Kapiteln näher eingehe: ein vernünftiges Rad, Bike-Fitting und Ausrüstung, Straßenverhältnisse und Verkehrssituationen, das Wetter, und der innere Schweinehund. Zum Schluss kommen einige private Details mit Hinweisen.

Copyright Ralph Stömmer, 2025. Alle Rechte vorbehalten.

2. Ein vernünftiges Rad, Bike-Fitting und Ausrüstung

Ich verwende zwei Fahrräder, mein Rennrad und mein altes Tourenrad, siehe Abbildungen oben. Das Rennrad ist für gute Sicht-, Wetter- und Straßenverhältnisse, das Tourenrad für den ganzen Rest. Eine Erfahrung wurde zur Regel: mit dem Rennrad (kleiner Strömungswiderstand, geringe Reibungsverluste) trainiere ich bei höheren Geschwindigkeiten hauptsächlich Technik, mit dem Tourenrad (höherer Strömungswiderstand und mehr Reibungsverluste) meine Kondition. Das haben mir erfahrene Triathleten, denen ich on Tour begegnet bin, bestätigt: nichts sei besser für die Fitness als ein altes Tourenrad!

Der endgültige Beweis obiger These begegnete mir eines sonnigen Tages an einem steilen Anstieg. Er war einige Jahre älter als ich, gewandet in ortstypische Tracht mit Lederhose und Janker aus Schurwolle, und hat mich auf einem etwa siebzig Jahre alten, ganglosen Miele-Fahrrad bergauf überholt. Einfach so hochgetreten, er musste nicht mal in den Stand wechseln. Es gibt Begegnungen im Leben, die lassen einen demütig werden. Schließlich hat mich der Gedanke getröstet, dass er in einem der Höfe auf dem Berg wohnen muss und die Strecke seit Jahrzehnten wohl täglich meistert. Ein Vergleich mit dem Himalaja drängt sich auf: dort feiern sich völlig erschöpfte, aber überglückliche Alpinisten für die Besteigung von Achttausendern – die ortsansässigen Sherpas marschieren da mir nix dir nix mit hoch, und wuchten auch noch das ganze Gepäck.

Bike-Fitting fängt schon bei der Radpflege an. Das Gefährt sollte sauber und alle beweglichen Teile wie Rad-, Tretlager und Ketten gut geschmiert sein. Dann der Reifendruck: vor allem Gelegenheitsradler sind gerne mit weniger als 2 bar unterwegs, erkennbar am plattgedrückten hinteren Reifen und mit einem Gesicht, das verrät, dass sie nur Radfahren, weil sie müssen. Wieviel Luftdruck in die Schläuche soll, steht als minimaler und maximaler Wert auf dem Mantel. Für Tourenräder in der Regel 3 – 5 bar, für Rennräder 6 – 8 bar. Mit dem richtigen Druck radelt es sich schon gleich viel leichter!

Übrigens: dass man sich mit hart aufgepumpten Reifen eher ein Loch fährt, ist ein Irrglaube, der sich immer noch hartnäckig hält. Und so mancher stellt erst beim genauen Inspizieren des Mantels fest, dass er im Grunde jahrelang mit einem Platten unterwegs war.

Zunächst vorausgesetzt, dass man ein Rad mit geeigneter Rahmengröße fährt (letztere bestimmt sich nach Körpergröße und Schrittlänge – wenn Ihr Euren Drahtesel schon seit der Jugend habt, wäre jetzt der geeignete Zeitpunkt, sich zu vergewissern), erkennt man eine passende Einstellung von Sattel- und Lenkerhöhe unter anderem daran, dass man im Stand, auf dem Sattel, mit den Schuhspitzen noch den Boden berührt. Beim Fahren ist der Oberkörper nach vorn geneigt, beim Rennrad mehr, beim Tourenrad weniger. Diese Verlagerung entlastet das Becken, was für die Beine wiederum raumgreifende, optimale Kurbelbewegungen ermöglicht. Man beachte den etwas anders gelagerten Fokus: der Radler hockt nicht auf dem Sattel und drückt ihn nieder, sondern der Sattel stützt den Radler beim effizienten Treten. Das erklärt auch die schmalen, anfänglich als unbequem empfundenen Rennrad-Sättel: das Hauptaugenmerk liegt darauf, die Fahrer effizient abzustützen. Wer das Resultat von Bike-Fitting als unangenehm empfindet: so ein Setting ist ergonomisch – und ergonomisch ist zunächst was anderes als gemütlich. Die Kraftübertragung soll im Rahmen vorhandener Möglichkeiten optimiert werden. Nach einer Eingewöhnungsphase fällt das Radfahren jedoch wesentlich leichter und macht sogar mehr Spaß. Phlegmatikern, die in aufrechter Position 100% ihres Körpergewichts auf den Sattel pressen, oder die in entspannter Sesselhaltung sogar etwas nach hinten lehnen, ist das vermutlich egal – ihnen ist Bequemlichkeit wichtiger als Effizienz, oder sie sind ohnehin mit einem E-Bike unterwegs.

Bei einem gut eingestellten Rad sind alle fixen und beweglichen Komponenten justiert. Ich empfehle die akustische Kontrolle: man suche sich ein möglichst unbefahrenes, unverschmutztes Stück asphaltierte Straße, auf dem man ungestört ein paar hundert Meter geradeaus fahren kann, um dem eigenen Rad zu lauschen. Hören sollte man nur das Reifengeräusch auf dem Asphalt und ein leises Schnurren der Kettenglieder auf den Zahnrädern. Alles andere ist ein Hinweis darauf, dass da etwas Unbekanntes aneinander reibt, nachjustiert oder nachgeölt werden will, in die Speichen ragt, an den Reifen schleift, oder noch locker ist, klappert und festgezogen werden muss.

Merke: Geräusche am Rad entstehen, weil Dinge aneinander reiben. Reibung lässt sich nicht vermeiden, aber in Grenzen reduzieren. Und sie beinhaltet immer Leistungsverluste und auf Dauer Verschleiß. Optimal eingestellte Räder sind leise!

Wer auf Bike-Fitting bisher keinen Gedanken vergeudet hat und auch keinen Anlass für Optimierungen sieht, für den habe ich einen quantitativen Zusammenhang parat. Es heißt zwar, dass jede Formel in einem nichtwissenschaftlichen Text die Zahl der Leser halbiert – aber das Risiko gehe ich ein. Ich halte mich an das Motto: keep it simple! 

Ein einfaches Verständnis grundlegender Zusammenhänge vermittelt das Radfahren bei konstanter Geschwindigkeit. Wenn ein Radler eine Kraft F aufbringt, um mit dem Fahrrad eine Geschwindigkeit v aufrechtzuerhalten, errechnet sich die Leistung P aus dem Produkt der Kraft F mit der Geschwindigkeit v zu P = F x v. Disclaimer für alle Nerds: diese einfache Formel gilt nur für den beschleunigungsfreien Fall. Bedeutet, der Radler fährt geradlinig mit konstanter Geschwindigkeit v auf ebener Straße so vor sich hin. Die gesamte erzeugte Leistung P muss nur darauf verwendet werden, alle im System entstehenden Verlustleistungen zu kompensieren.

Eine allseits bekannte Verlustleistung wird durch den Luftwiderstand hervorgerufen. Sie ist schon bei Windstille da, sobald man mit der Geschwindigkeit v radelt, und wird bei Gegenwind schlimmer. Dann machen sich die Radler klein und klappen instinktiv den Oberkörper nach vorn, um den Luftwiderstand zu reduzieren. Rennradfahrer verfolgen mit der Tieflage die gleiche Absicht, wobei die Tieflage das Default-Setting ist, und sich aufrichten die Ausnahme. Eine weitere Verlustleistung ist auf den Rollwiderstand zurückzuführen, dieser entsteht durch Reibung zwischen Reifen und Straße. Das erklärt die schmalen, hart aufgepumpten Reifen von Rennrädern. Dann gibt es noch unzählige kleinere Verlustleistungen im System Fahrrad: Reibungsverluste in den Achsen, im Tretlager, den Pedalen. Auch beim Quetschen des Reifens bei zuwenig Druck im Schlauch, und vieles mehr.

Im System Mensch gibt es übrigens auch Verlustleistungen. Dabei handelt es sich um Muskelarbeit, die nicht direkt dem Vorwärtskommen dient, sondern die allerlei Unstimmigkeiten zum Opfer fällt: der Hintern, der auf dem Sattel scheuert. Die Beine, die beim Treten nicht ausholen können, weil der Sattel zu niedrig eingestellt oder das Fahrrad schlicht zu klein ist. Der Oberkörper, der ständig zur Seite wippt, weil der Sattel zu hoch eingestellt oder das Fahrrad schlicht zu groß ist. Allesamt Verlustleistungen, welche die Energie vergeuden, die der Radler mitbringt, und die letztlich als ungenutzte Wärme in die Umgebung verpuffen. Man sieht: das Ganze ist wie ein Boot, in dem viele Löcher zu stopfen sind. Kleinvieh macht Mist!

Wenn es gelingt, Verlustleistungen zu minimieren, reduziert sich gemäß obiger Formel auch die dafür erforderliche Leistung P. Der Radler muss weniger Kraft F aufbringen, um die Geschwindigkeit v aufrechtzuerhalten. Salopp gesagt: Man erreicht mit weniger Aufwand das gleiche Ziel. Radsportorientierte gehen einen Schritt weiter und möchten bei gleichem Aufwand höhere Ziele erreichen! Die Aufgabe ist schnell formuliert – an der Lösung arbeitet eine ganze Industrie, denn es geht um viel. Da wären die Umsätze im Fahrradhandel, die Preisgelder bei Radsportwettbewerben, sowie Ruhm und Ehre. Der Industrie vorgelagert ist die Wissenschaft, und der Wissenschaft vorgelagert sind die Profis aus dem Radsport und aus dem Triathlon mitsamt ihrer Entourage. 

Ein paar Ebenen unter dem Olymp werden kleinere Brötchen gebacken. Aufgrund meiner langjährigen Erfahrungen, die ich als Hobby-Schrauber im Verwandten- und Bekanntenkreis sammeln durfte, behaupte ich: Bei Tourenrädern von Leuten, die ihr Rad nur gelegentlich aus dem Keller holen, lässt sich durch einfache Optimierungen 20% Performancegewinn herausholen. Bedeutet: bei gleichem Kraftaufwand sind statt der 17 km/h plötzlich 20 km/h drin. Oder, wenn man seine 17 km/h beibehalten will, geht das plötzlich mit 20% weniger Kraftaufwand. Das ist viel und auch deutlich spürbar. Wer bisher mit einem halben Platten auf einem dejustierten, vernachlässigten Drahtesel nur zum Bäcker und wieder zurück musste, kann etwa 30% Performancegewinn erzielen. Ihr seht: es muss nicht gleich ein E-Bike sein, auch wenn die Nachbarn davon schwärmen. Bike-Fitting ist einer der Gründe, warum so mancher das eigene Rad mit ganz neuen Augen sieht und seine Liebe zum Radfahren entdeckt!

Seit einigen Jahren sind Rennräder in Mode, deren Radlager Rotationsgeräusche von sich geben, als ob Raubkatzen fauchen, und deren Sperrklinken im Freilauf gefühlt jenseits der siebzig Dezibel knattern. Wenn die Fahrer keine Freaks sind, die ihre Radlager mit speziellen Nanopartikeln schmieren, dann muss es sich um Sounddesign handeln, mutmaßlich um für das Marktsegment eine Art „Porsche-Effekt“ zu erzeugen. Nicht selten sehen die Fahrer genauso martialisch aus, wie sich die Rennräder anhören: in Trikots gezwängt, die Anmuten wie die Kompressionsunterwäsche von Stratosphärenpiloten. Über viele Kilometer Überholmanöver und Begegnungen habe ich gelernt: diese Spezies nimmt sich selbst ausgesprochen ernst, lächelt nicht und findet kaum die Zeit, zu grüßen (die Etikette der Szene: Grüßen ist unter Rennradfahrern Usus! Und sofern man mit dem Rennrad ohne ersichtlichen Grund steht, fragen viele nach und bieten ihre Hilfe an, wenn sie gesundheitliche Probleme oder technische Defekte vermuten).

Um Euren Blick für Details zu schärfen, will ich an dieser Stelle kurz darauf eingehen, wie Hardware, oder besser gesagt deren sichtbarer Mangel, in Allianz mit Straßenbau einen neuen Trend auslöst. Dass es sich bei besagten Piloten weder um klassische Rennradfahrer, noch um Triathleten handelt, erkennt man unter anderem an der mitgeführten Ausrüstung: sie haben keine! Kein Proviant, kein Stück Werkzeug, keine gerollte Windjacke, auch keine Packung Tempo – nichts was in den Taschen ihrer Suits irgendwie auftragen könnte und die Silhouette zunichte machen würde. Dieser Umstand dürfte ihren zeitlichen Aktionsradius auf etwas über eine Stunde beschränken, maximal zwei Stunden bei schönem Wetter. Ich hege sogar den Verdacht, dass manche, Männer wie auch Frauen, ohne Unterwäsche aufs Rad steigen. Hin und wieder ist zu erkennen, dass sich unter den Suits weder Säume noch Gummizüge abzeichnen. Die formgebende Synthetik ist hauteng, was die sekundären Geschlechtsmerkmale thematisiert.

Die Radler sind nicht lange unterwegs, deshalb nehmen sie in Kauf, dabei zu frieren. Einmal kam mir bei einstelligen Außentemperaturen eine Rennradlerin entgegen, die in ein ebensolches kurzes Trikot und eine ebensolche kurze Fahrradhose gezwängt war. Den Windchill-Effekt, der schon bei weniger tiefen Temperaturen für zusätzlichen Wärmeabfluss vom Körpergewebe nach außen sorgt, hat sie vermutlich ignoriert. Offensichtlich hat ihr Kreislauf versucht, die Kälte zu kompensieren, indem er mit einer erhöhten Durchblutung der betroffenen Körperregionen gegensteuert hat. Die freien Körperoberflächen, insbesondere Oberschenkel und Arme, waren stark gerötet. Zudem waren die Beine dort sichtlich angeschwollen, wo die Radhose nicht mehr bedeckte. Rückblickend hoffe ich, ihr Zustand hat sich nicht weiter verschlimmert, und sie hat es bis nachhause geschafft. Bei noch niedrigeren Temperaturen hätte sie sich Erfrierungen ersten Grades eingehandelt.

Es sind vor allem die Radschnellwege, die während und nach Corona allerorts ausgebaut wurden und geradeaus ein schnelles hin-und-wieder-zurück ermöglichen, die das neu entstandene Marktsegment mit verantworten. Auf den Punkt gebracht: es geht nicht darum, längere Distanzen zu überwinden und sich neue Räume zu erschließen. Sondern darum, auf der Kurzstrecke eine gute Figur zu machen. Zwischen Start und Umkehrpunkt ist immer Publikum vorhanden, und so nutzen die Radler die Piste als Laufsteg. Neben ihrer Erscheinung erzeugt auch der ungewöhnliche Sound ihrer Rennräder Aufmerksamkeit und lässt darauf schließen, dass die Radhersteller damit verbundene Leistungsverluste und Verschleiß scheinbar in Kauf nehmen, um den Trends nachzugeben.

Wie bereits erwähnt, benutze ich zwecks Anpassung an Sicht-, Wetter- und Straßenverhältnisse sowohl ein Renn- als auch ein Tourenrad. Ein Gravel-Bike wäre gefühlt ein Kompromiss zwischen beiden Welten. Aber: wer denkt, Gravel-Bikes wären Rennräder mit dicken Reifen, der täuscht sich. Man beachte die bei Rennrädern nicht unwesentlichen Details wie etwa die Speichen mit Schneidenquerschnitt, den kürzeren Radstand, sowie das Material, das daraus resultierende Gewicht, und den strömungsoptimierten Rahmen. Gravel-Bikes sind bezüglich Fahrdynamik tendenziell eher Tourenräder mit Rennradlenkern, dafür ohne Schutzbleche und ohne Gepäckträger – aber manchmal zum stolzen Preis eines Rennrads. Ich habe schon oft Gravel-Bikes gesehen, die durch viele nachträglich zugekaufte Ergänzungen wieder in ein Tourenrad transformiert wurden. Es wäre sicher einfacher und günstiger gegangen – aber hinterher ist man immer schlauer. Wer ein gutes Tourenrad hat und hauptsächlich auf Fitness fokussiert, braucht im Grunde kein Gravel-Bike. Wer trotzdem Gravel-Bike-Feeling haben möchte, aber wenig Geld ausgeben will, der schraubt sich einen Rennradlenker aufs Tourenrad.

Ein Fahrradhelm ist obligatorisch, die sonstige Ausrüstung wie Fahrradhose, -trikot, -brille, -Handschuhe, Wind- und Regenjacke usw. braucht erst nach und nach ergänzt werden. Der tatsächliche Bedarf soll entscheiden, und lasst Euch keine Gimmicks aufschwatzen. Für die Wintermonate kann man sich eine lange Sporthose über die kurze Fahrradhose ziehen, in die das Gesäßpolster integriert ist. Ich empfehle eine große Fahrradbrille nicht nur als trendigen Sonnenschutz, sondern vor allem als Schlagschutz gegen Insekten, Steinchen und allerlei Gegenstände, die einem auf Tour entgegenfliegen. Bei höheren Geschwindigkeiten, die Mutter Natur für den Homo Sapiens so nicht vorgesehen hat, funktioniert der Lidschlussreflex nicht mehr schnell genug. Bedeutet, Ihr habt die Insekten schneller im Auge, als Eure Biosensoren das registrieren. Wenn man bergab mit bis zu 50 km/h in den Fliegenschwarm neben einer Kuhweide rauscht, werden Insekten zu kleinen Geschossen. Gelegentlich schlagen Steinchen, die unter Autoreifen wegschnalzen, gegen Helm und Brille. Einmal hat sich ein größeres Plastikteil vom Unterboden eines Fahrzeugs gelöst, wurde von den Reifen wegkatapultiert, und flog in Armlänge an meinem Gesicht vorbei. Ebenso eine volle Babywindel, die achtlos aus einem Auto heraus quer über den Radweg geschmissen wurde und mich nur knapp verfehlte. Wer viel unterwegs ist, der erlebt auch mehr.

Fahrradhandschuhe sollte man nicht unterschätzen. Die Polsterung der Handflächen macht lange Touren angenehmer. Bei niedrigen Temperaturen, die bereits bei Werten knapp unter 15 °C anfangen, empfehle ich geschlossene Fahrradhandschuhe. Ich bin nicht empfindlich, sondern spreche aus Erfahrung. Hände gehören zu den besonders exponierten Körperteilen, die dem Windchill-Effekt ausgesetzt sind, welcher der Rennradlerin, einige Absätze zuvor geschildert, fast zum Verhängnis geworden wäre. Die Finger kühlen herunter, und ab einer Strecke von etwa 10 km werden sie allmählich taub. Das merkt man zunächst nicht, weil sie nur den Lenker umklammern. Zuhause angekommen wird es dann schwierig bis nahezu unmöglich, mit vereisten Händen den Hausschlüssel aus der Tasche zu kramen, aufzusperren, und die Reißverschlüsse zu öffnen, wenn man dringend auf die Toilette muss.

Wenn Ihr bisher eher sporadisch mit dem Rad unterwegs seid, also noch ganz am Anfang Eurer Radler-Karriere steht, ist ein gutes Rad sicherlich das werthaltigste Objekt im Arsenal. Dabei steht die Frage im Raum: muss es gleich ein Rennrad sein? Denkt an den Rat, den ich von den erfahrenen Triathleten bekommen habe: benutzt erst mal das Tourenrad, und findet damit Eure Grenzen! Die Erfahrung zeigt, dass dabei durchaus ein Jahr vergehen kann.

Warum man nicht gleich auf dem Rennrad loslegen sollte – außer man hat schon länger eins: Technik ist eine gefährliche Sirene, sie lockt wie ihre Pendants aus der griechischen Mythologie die Unbedarften ins Verderben! Mit Leichtigkeit gleicht sie Schwächen aus, sorgt für einen sportlichen Auftritt, und verschafft zunächst trügerische Geschwindigkeit. Ehe man sich versieht, trainiert man im falschen Arbeitspunkt und fährt den Körper in ein ungesundes Nebenoptimum, aus dem es kein Entrinnen mehr gibt. Zuhauf radeln solch arme Kreaturen an einem vorbei, gerne mit viel zu tief verstelltem Sattel. Sie greifen horizontal zur Lenkstange, den Oberkörper im Hohlkreuz in die Vertikale gebogen, den Kopf im Fahrtwind nach oben gestreckt wie die Erdmännchen.

Übt Euch in Geduld, bis Euer Körper soweit ist und Euch mitteilt: jetzt muss ein Rennrad her! Der Vorteil dieses Vorgehens liegt auf der Hand. Ihr habt Euch und Euer Rad besser kennengelernt. Mit Bike-Fitting habt Ihr wichtige Details erarbeitet. Ihr habt schon Kilometer gemacht, die Arme tun nicht mehr weh, und Ihr scheuert Euch den Hintern nicht mehr wund. Ihr habt nebenher bereits viel im Internet recherchiert. Ihr habt unterwegs Rennradfahrer und ihre Räder in Aktion gesehen, mit ihnen gesprochen, vielleicht über Rad und Technik gefachsimpelt. Ihr geht ganz anders in ein Fahrradgeschäft rein, wenn ein Rennrad fällig ist, denn Ihr wisst was ihr wollt, und worauf es ankommt.

Wer nicht so lange warten kann, dem sei gesagt: blank in die Filiale zu marschieren und sich ausschließlich auf die Fachkompetenz der Verkäufer zu verlassen kann nach hinten losgehen! Ich kenne gerade mal ein größeres Sportgeschäft in der Stadt, da gibt es sie vielleicht noch, die kompetente objektive Fachberatung. Doch sie schmilzt allerorts dahin – warum? Weil Präsenzgeschäfte in harter Konkurrenz mit dem Onlinehandel stehen, und Kompetenz – oft nur noch eine bloße Marketingphrase – nicht mehr unbedingt belohnt wird. Um das zu verstehen, muss man die Seiten wechseln. Man versetze sich in die Lage des Verkäufers, der einen Kunden kompetent berät und auf alle Fragen eine Antwort weiß. Die Nebel lichten sich, ein Produkt zeichnet sich ab welches zu den Bedürfnissen des Kunden passt. Schließlich empfiehlt der Verkäufer ein Fahrrad, und es wird Probe gefahren. Der Kunde bedankt sich herzlich, verlässt das Geschäft und sucht im Internet nach demselben Rad, zu einem günstigeren Preis. Eine Situation, die sich tagtäglich viele Male so abspielt. Inzwischen sind die Kunden so dreist und verlassen nicht mal mehr den Laden, wenn sie im Internet nach Alternativen suchen. Am ende des Tages zählt der Umsatz. So wird klar, warum Verkäufer versuchen, das schmackhaft zu machen, was im Laden steht und im Lager verfügbar ist. Und weil Ladenflächen endliche Dimensionen haben, beschränkt sich die ausgestellte Ware auf eine kleinere Auswahl. Das ökonomische Ziel – für das ich durchaus Verständnis habe – ist, dass der Kunde den Laden mit vollen Tüten wieder verlässt. Ich muss wirklich lange nachdenken: dass ein Berater seine geballte Fachkompetenz aufgebracht hat, um mir eine abwegige Idee auszureden, ist sicher schon länger als zehn Jahre her.

Einen krassen Fall habe ich erlebt, als ich in einem Fahrradgeschäft ein Rennrad ausprobiert habe. Der Mitarbeiter der Radsportabteilung kalibrierte meine Körpergröße und Schrittlänge in wenigen Sekunden per Augenschein. Daraufhin hat er mir Rahmengröße M empfohlen mit dem Satz: „Man fährt heutzutage kleinere Rahmen – das ist so!“ Der Rahmen des vorhandenen Objekts, zufällig Größe M, war nicht nur eine, sondern sogar zwei Nummern zu klein. Bevor man überlegt, ob an der Behauptung was dran sein könnte, aktiviere man eine naheliegende Analogie und übertrage den Fall auf den Kauf von Schuhen! Sowas passiert, wenn Verkäufer unter Druck stehen. Wer da ohne Background in den Laden reingeht, der kommt mit einem Drahtesel wieder heim, den die Kinder fahren können.

Die Story mit dem kleineren Rahmen ist zwar Seemannsgarn, geht aber auf einen wahren Kern zurück. Für Triathleten bringt jede minimale Verbesserung beim Radfahren einen Riesenvorteil auf langen Distanzen. Deshalb haben Triathleten, im Vergleich zu gewöhnlichen Rennradfahrern, eine zweite, viel extremere Tieflage: sie schieben einen erheblichen Teil des Oberkörpers nach vorne, und stützen sich dabei mit den Armen auf sogenannten Aerobars ab, das sind horizontale Extensions, die weit über den eigentlichen Lenker nach vorne hinausragen. Im Ergebnis schiebt sich der Kopf des Fahrers horizontal bis über die Vorderradachse. Der Oberkörper krümmt sich dabei so über den Rahmen, dass der Luftwiderstand möglichst minimiert wird. Tendenziell wird der Sattel auch höher gestellt als bei gewöhnlichen Rennrädern. Für die perfekte Haltung, die möglichst schmerzfrei sein sollte, sind sehr viel Training mit Betreuung durch Experten und Tests im Windkanal nötig. Ein Nebenergebnis dieser Optimierung ist, dass der Rahmen tatsächlich etwas kleiner ausfallen kann. Um bei der Analogie mit den Schuhen zu bleiben: wenn man die Schuhe vorne aufschneidet und die Zehen über die Sohle hinausragen lässt, dann dürfen die Schuhe auch eine Nummer kleiner sein. Dieser Zusammenhang gilt für Triathlon-Rennräder. Für gewöhnliche Rennräder, oder gar für Tourenräder, gilt dieser Zusammenhang nicht. Da muss der Rahmen zu Körpergröße und Schrittlänge passen.

Übrigens: wer unbedingt ein Rennrad möchte, aber nicht gleich viele tausend Euro für ein neues hinblättern will, kann es auch mit einem gebrauchten versuchen. Für Einsteiger geeignete Exemplare, die nicht älter sein sollten als zehn Jahre, gibt es bereits um die tausend Euro, je nach Zustand ein paar hundert Euro hin oder her. Auf den bekannten Online-Marktplätzen finden sich Angebote zuhauf! Dort bekommt man auch ein gutes Gefühl dafür, in welchen Preiskorridoren sich gebrauchte, teils kaum gefahrene Rennräder bewegen. Ich wage mal zu behaupten, dass ein Hobby-Rennradler jahrelang damit glücklich werden kann und es nicht schafft, das Gesamtsystem aus Mensch und Maschine ans Limit zu fahren. Wenn Ihr mit Bekannten darüber sprecht, ist es gut möglich, dass jemand sein Rennrad an Euch abtreten will. Wenn die Größe passt, warum auch nicht? Manche haben vergleichsweise neuwertige Rennräder im Keller, teils sehr hochwertige Marken, die dort unten im Dunkeln vor sich hin stauben, weil sie nie benutzt werden (siehe Kapitel 6, Absatz zu „Mental Accounting“).

Ist teures Markenequipment besser? Bringt es zusätzliche Performancegewinne? Zur Klärung dieser Frage muss man weiter ausholen. Noch vor kurzem gab es indigene Völker, die einen rituellen Kannibalismus praktizierten. Sie verzehrten Körperteile besiegter Feinde, um deren Stärke und Intelligenz zu erlangen. Anthropologen wissen, dass der Brauch bis in die früheste Menschheitsgeschichte zurückreicht. Er war auch unseren Vorfahren nicht fremd. Die Erwartung, dass positive Eigenschaften wie von Zauberhand auf einen übergehen, wenn man sich einer Sache bemächtigt, hat bis in heutige Zeiten überdauert. Anders lässt sich nicht erklären, warum Leute ins Sportgeschäft gehen und für viel Geld Equipment shoppen, in welchem sie aussehen wie Tadej Pogačar, der Radrennfahrer. Sam Laidlow hat den Challenge Roth Triathlon auf einem Rennrad der Marke Canyon gewonnen, und er trinkt Red Bull? Also muss ein Canyon her – und wo bitte geht´s zum Regal mit den Energy-Drinks? Oder die coole Sonnenbrille, die Sebastian Kienle auf Hawaii trug? Die Sportartikelhersteller wissen um dieses urmenschliche Verhalten und machen Topathleten zu ihren Markenbotschaftern, heißt: sie sponsern die Athleten und ihre Teams, im Gegenzug tragen, fahren und trinken die Athleten die Produkte der Unternehmen, und zwar häufig dann, wenn Kameras zugegen sind.

Ob sich die sportliche Performance tatsächlich verbessert, wenn man die Marke X trägt und dabei so aussieht wie Promi Y, wurde meines Wissens noch nicht erschöpfend analysiert. An anderer Stelle haben Arbeitswissenschaftler jedoch herausgefunden, dass adrette Kleidung die Moral am Arbeitsplatz hebt und die Leistung, zumindest kurzzeitig, steigert. Nicht lange danach gewinnen Gewöhnungseffekte die Oberhand, und das Niveau sackt wieder ab auf business as usual. 

Auf den Sport übertragen könnte man die Frage „Teures Markenequipment: ja oder nein?“ möglichst objektiv so beantworten: eine leistungssteigernde Wirkung konnte bisher nicht nachgewiesen werden. Es gibt jedoch einen subjektiven Feel Good Effekt, verbunden mit einem gesteigerten Selbstwertgefühl. Das erhöht die Selbstmotivation, einen Plan überhaupt in die Tat umzusetzen, und womöglich sogar dranzubleiben. In a nutshell: Ihr müsst das Geld nicht für teure Marken rauswerfen – aber wenn Euch das persönlich irgendwie weiterbringt, Ihr Euch besser damit fühlt, und Ihr den Kauf hinterher nicht bereut, why not?

Das Phänomen hat noch eine faszinierende Voodoo-Variante: eine Person setzt insgeheim darauf, dass Marken eine wundersame Wirkung auf eine andere Person entfalten mögen! Es kommt vor, dass Frauen ihren Männern teures Sportequipment schenken in der Hoffnung, der Couch-Potato rafft sich doch nochmal auf. Der umgekehrte Fall, dass Männer ihre Frauen entsprechend beglücken, ist mir bis dato nicht bekannt. Da Männer ungern auf die subtile, indirekte Art getriggert werden, verstaubt das Zeug in aller Regel im Keller. Vor längerem bin ich auf diese Weise für kleines Geld zu guter Sportausrüstung gekommen. Jemand hatte auf einer Online-Plattform für Gebrauchtes ein Inserat geschaltet, das lautete etwa so: „Tausche Fitnesswatch gegen eine Tüte Fruchtgummis“. Ich bin vorbeigefahren, mit nicht nur einer, sondern mehreren Tüten Fruchtgummis, da die Fitnesswatch höherwertiger war. Die Frau, welche mir die Tür öffnete, war so überrascht ob der Menge Süßigkeiten, dass sie mir noch zwei neuwertige Fahrradtrikots und eine Fahrradhose einer edlen italienischen Manufaktur mit obendrauf gab! Ich erinnere mich noch an ihre Worte: „Das war alles für meinen Mann, zum Radeln. Aber er radelt nicht!“

3. Straßenverhältnisse und Verkehrssituationen

Eigentlich könnte dieses Kapitel ein ganzes Buch füllen. Das Tourenrad verwende ich nicht nur bei ungünstigem Wetter und wenn es, wie in den Herbst- und Wintermonaten, am Morgen noch und am Abend schon dunkel ist. Ich verwende es auch, um neue Strecken zu checken, die ich später erstmalig mit dem Rennrad fahre. Alter Asphalt, der zur Seite hin bröselt wie Blätterteig, Löcher und Fugen breiter als Radfelgen, zu tief abgesetzte Gullys, Splitthaufen, größere Erdklumpen von angrenzenden Feldern, Glasscherben-Arrangements in und um Ortschaften herum, von LKWs und Schwertransportern zusammengeschobene Wellen im Asphalt, sowie mangelhaft angeschrägte Bordsteine auf Radwege können böse enden, wenn man auf dem Rennrad bei über 30 km/h nicht rechtzeitig reagiert. Mit den dünnen, harten Reifen eines Rennrads werden einem selbst nasses Laub und schleimige Nacktschnecken schnell zum Verhängnis, wenn man sich zu lässig in die Kurve legt. Ein neugieriger Blick zur Seite, die Kontrolle der Schaltung, oder der Griff zur Wasserflasche inklusive Verschluss hochziehen kann 2 Sekunden dauern. In dieser Zeit legt man bei Geschwindigkeiten > 30 km/h mindestens 17 m zurück. Es ist daher nicht ratsam, den Blick von den nächsten 20 m bis 30 m abzuwenden.

Auf dem Rennrad ist man hauptsächlich in Tieflage unterwegs, der Rumpf inklusive Kopf aerodynamisch nach vorne geneigt. Ergo ist es von Vorteil, kritische Streckenabschnitte schon vorher mit einem Tourenrad zu „erfahren“, um gewappnet zu sein. Dass Rennradler kein Auge für die schöne Umgebung hätten ist ein Trugschluss: sie starren zur eigenen Sicherheit nach vorne. Abgesehen davon kennen die meisten die Gegend von regelmäßigen Fahrten wie ihre Westentasche.

Nach vielen Touren durch Orte und übers Land kann ich sagen: kritische Streckenabschnitte finden sich zuhauf! Dazu kommen von Mai bis August unzählige Dorf- und Straßenfeste, welche an den Tagen danach, in Einzelfällen sogar noch Wochen danach, eine Ortsdurchfahrt mit dem Rennrad zu einem Scherbenslalom machen. Mit das höchste Level an Balance und Fahrtechnik erfordert die 3er Kombination aus Scherben, Splitt und Gullys – eine Disziplin, die ich inzwischen wie ein Profi meistere, ohne entnervt auf dem Gehsteig anzuhalten, um etwaige Autos hinter mir vorbeizulassen. Seither habe ich auch eine völlig neue Sicht auf Mountainbikes und SUVs. Die Fahrzeugkategorien sind nichts anderes als eine evolutionäre Anpassung an unsere Straßenverhältnisse.

Für viele Ortschaften sind nationale und internationale Radsportveranstaltungen eine Gelegenheit, die Verkehrsinfrastruktur saniert und zum Wettbewerb gereinigt zu bekommen. Wer schon mal länger eine Übertragung der Tour de France oder der Giro d’Italia im Fernsehen verfolgt hat, der staunt über den guten Zustand der Straßen, die sich durch noch so kleine Dörfer schlängeln. Das freut die Radprofis, die damit höhere Geschwindigkeiten realisieren können. Sie finden sogar etwas Zeit, im Fahrerfeld ein paar Worte mit den anderen zu wechseln und gewinnen die Sicherheit, für mehrere Sekunden zu den Fans an der Seite zu blicken. Dass die Radstrecke der Challenge Roth, Deutschlands legendärer Triathlon, ausgerechnet durch viele fränkische Ortschaften führt, ist kein Zufall. Die Franken lieben es karg, aufgeräumt und sauber. Ich muss es wissen, bin schließlich selbst ein halber Franke. Ich habe mein Rennrad ins Auto gepackt, bin hingefahren und habe mir den 90 km Rundkurs, der beim Triathlon zweimal gefahren wird und für Enthusiasten ganzjährig ausgeschildert ist, angesehen. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, die Einwohner reinigen ihre Ortsdurchfahrten mit dem Staubsauger.

Generell stellt sich die Verkehrssituation auf dem Land etwas entspannter dar – trotzdem Vorsicht. In Ermangelung öffentlichen Nahverkehrs ist dort das eigene Auto nach wie vor die erste Wahl, selbst für Kurzstrecken, zum Beispiel für die paar hundert Meter von zu Hause zum Wirt. Wer am Wochenende unterwegs ist und ein Festzelt sieht und Plakate für Steckerlfisch, Schweinsbraten und Hendl, sollte den Ort auf Alternativrouten umfahren. Sonst bleibt man auf der Zufahrt in Blechlawinen stecken, oder innerorts vor Absperrungen stehen, die eine Straße als Zufahrt zu provisorischen Parkflächen umwidmen. Was sich liest wie ein weiß-blaues Klischee ist einige Tausend Kilometer erradelte Erfahrung. 

Wochentags ist der beste Zeitpunkt für berufstätige Amateur-Rennradfahrer morgens vor, sowie abends nach dem Berufsverkehr. In den morgendlichen Berufsverkehr zu geraten kann die Hölle sein! In den Pkws wird aus Zeitmangel gefrühstückt und sogar erste Meetings abgehalten. Radfahrer an der Seite werden da schnell übersehen und geschnitten. Meine Morgenrunde führt an einer Schule vorbei. Breche ich zu spät auf, muss ich diese weiträumig umfahren, denn Elterntaxis verstehen keinen Spaß. Gleiches gilt für den Verkehr abends nach Hause: da brechen sich menschliche Urinstinkte Bahn, die heimische Höhle noch vor Einbruch der Dunkelheit zu erreichen. Das gleiche tendenziell aggressive Verhalten legen Autofahrer bei Gewitter an den Tag, obwohl das Fahrzeuginnere trocken hält: nur schnell nach Hause!

Landwirte mit Traktoren und Landmaschinen aller Art nehme ich hierbei aus. Ich habe festgestellt, dass sie Rennradfahrern oft Platz machen, genügend Abstand halten – und sogar grüßen! Ob letzteres verallgemeinerbar oder nur eine lokale Eigenheit in meiner Heimat ist, kann ich nicht beurteilen. Ich erkläre es damit, dass Landwirte und Rennradler unterwegs auf unbekannte Weise zu Verbündeten werden: man ist in ähnlichen Geschwindigkeitsbereichen unterwegs und nervt die Autofahrer in gleicher Weise.

Meine 5.000 km Challenge verlief unfallfrei – toi toi toi! Eine Spezies verdient allerdings erhöhte Aufmerksamkeit, wenn man regelmäßig mit dem Fahrrad unterwegs ist: das sind die Lieferdienste. An meinen beinahe-Unfällen waren fast ausschließlich Lieferdienste beteiligt. Das hat einfache Gründe: die Fahrer stehen unter Druck. Sie müssen in ihrer Schicht möglichst alle Post und Pakete ausgeliefert bekommen. Ein wesentlicher Erfolgsfaktor dabei ist, die Straßenverkehrsordnung etwas freizügiger auszulegen. Man begegnet den Lieferfahrzeugen beispielsweise auf Radwegen. Diese blockieren sie nicht nur, sondern befahren sie auch, um nicht wieder zurück auf die Straße einfädeln zu müssen, was wertvolle Minuten kosten kann. Missachtung der Vorfahrt beim Abbiegen brauche ich gar nicht mehr erwähnen. In einigen Fällen ging dies mit voller Absicht vonstatten, da Blickkontakt hergestellt war und die Fahrer mich registriert hatten. Da Lieferdienste gerne frühmorgens und abends unterwegs sind, weil da die Erfolgsquote steigt, die Leute zu Hause anzutreffen, begegnet man ihnen auf den Morgen- sowie den Abendtouren sehr häufig.

Gehören Rennradfahrer auf den Radweg, oder nicht? Ein Lieblingsthema in der Szene! Grundsätzlich gilt: ist ein Radweg mit einem blauen Schild ausgewiesen, auf dem ein weißes Fahrradsymbol zu sehen ist, müssen alle auf den Radweg – Rennradfahrer eingeschlossen (es sei denn, sie fahren im Verband – siehe nächster Absatz). In allen anderen Fällen dürfen Radler auf den Radweg, aber sie müssen nicht. Entscheidet man sich trotz vorhandenem Radweg doch für die Straße, muss man Nervenstärke beweisen und gelegentliches Hupen und Drängeln ungeduldiger Autofahrer mit buddhistischer Gelassenheit hinnehmen. Zu Beginn meiner Karriere als Hobby-Rennradfahrer war ich noch ein Verfechter von Radwegen. Bereits wenige hundert Kilometer später habe ich meine Meinung geändert. Auf meinem Tourenrad, welches dank Gabelfederung und breiter Reifen diverse Untiefen, Brüche, Falten im Asphalt und tektonische Verwerfungen kompensieren kann, benutze ich Radwege nach wie vor noch gerne.

An einem schönen Wochenende wurde ich von einer größeren Gruppe Rennradfahrer angesprochen und eingeladen, mitzufahren. Der Grund: ab sechzehn Radlern gilt man als geschlossener Verband, der nach Straßenverkehrsordnung wie ein einziges Fahrzeug zu betrachten ist. Das hat Vorteile für alle: wenn der erste bei Grün über die Ampel fährt und diese springt dann auf Rot, dürfen die restlichen Radler folgen. Maximal zwei Radfahrer dürfen nebeneinander fahren. Wichtig: für einen Verband entfällt auch die Benutzungspflicht von Radwegen. Die Herausforderung dabei: Autofahrer haben das alles für den Führerschein gelernt – so mancher jedoch längst wieder vergessen, denn es kommt nicht allzu häufig vor. Entsprechend spannend können sich die Überquerung einer Kreuzung oder die raumgreifende Nutzung einer Straße gestalten.

4. Das Wetter

Von Anfang Oktober 2024 bis Ende September 2025 fiel etwa jeder vierte Tag dem schlechten Wetter zum Opfer. Fiel ein Tag wegen Regen, Schneetreiben, oder allzu tiefen Temperaturen flach, habe ich das Zeitbudget für die ausgefallene Tour auf den folgenden Tag aufaddiert. Bedeutet: statt einer Stunde radeln nun zwei Stunden. Fiel auch der folgende Tag für eine Fahrt flach, standen am darauffolgenden Tag drei Stunden radeln auf dem Programm. Manchmal türmten sich die Zeitbudgets auf, und so kamen richtig große Touren zustande. Mein Highlight mit dem Rennrad belief sich auf eine Strecke von 110 km.

Der Klimawandel führt zu Wetterphänomenen, die es vor zwanzig Jahren so noch nicht gab: Lokalwetterlagen und Luftverwirbelungen, die von Meteorologen – in Anlehnung an die Fluiddynamik – manchmal als Micro Eddies bezeichnet werden. Auf manchen Ausfahrten wurde ich Zeuge solcher Lokalwetterlagen: an einem Ort eitel Sonnenschein – während einige Kilometer weiter die Welt unterging. Einmal konnte ich entlang einer Straße eine scharfe Regengrenze beobachten, welche sich bei nahezu Windstille kurzzeitig stabilisierte: rechts der Straße Regen, links der Straße Trockenheit, mit einem Übergangsbereich dazwischen, der vielleicht nur einige Meter umfasste. Bedeutet für die Vorbereitung: nicht nur das Wetter zu Hause ist relevant, sondern auch das Wetter dort, wo man hinradelt.

Die lokalen Luftverwirbelungen, oder Micro Eddies, kann man sich als Luftwalzen von einigen hundert Metern bis zu wenigen Kilometern Durchmesser vorstellen, die sich wie riesige Zylinder gegeneinander drehen. Das fühlt sich dann wie folgt an: zunächst ein paar Kilometer Rückenwind – der sich auf wenigen hundert Metern in einen Gegenwind verwandelt. Im Bereich dazwischen diffuse Seitenwinde, die einem die Tieflage destabilisieren, wenn man nicht achtgibt. Das kann sich mehrmals wiederholen. Eine meiner Touren beinhaltet einen Ost-West-Abschnitt von etwa 10 km Länge über ebenes, teils bewaldetes Gebiet mit Bebauung dazwischen. Dort erlebe ich das vergleichsweise häufig.

Übrigens: Gegenwind- und Rückenwindeffekte heben sich beim Radeln nicht gegenseitig auf – ein selbst unter Experten weitverbreiteter Irrtum (wer´s nicht glaubt: nachrechnen!). Lession to go für ambitionierte Amateure und für Profis: Wind verschlechtert immer die Gesamtbilanz – es sei denn, er kommt ausschließlich von hinten.

Die Wetter-App und den Regenradar konsultiere ich in Vorbereitung einer Tour zu Hause. Mein Smartphone ist nicht am Lenker montiert, sondern in der hinteren Trikottasche verstaut. Ich höre auch keine Musik. So bin ich unterwegs ganz bei mir und genieße den „Flow“. Manchmal präsentiert sich der Horizont mit Wolkenformationen wie in einem Western von John Ford. Um die Weite einzufangen, reicht die Optik meiner Smartphonekamera nicht aus. Dann denke ich an eine Szene aus dem Film „Das erstaunliche Leben des Walter Mitty“, in der Sean Penn zu Ben Stiller sagt: „Wenn mir ein Moment gefällt – ich meine mir persönlich – dann will ich nicht dass mich die Kamera ablenkt. Dann will ich einfach nur darin verweilen. So wie gerade, hier und jetzt.“

Die aktuelle Wetterlage lese ich mittlerweile wie der Kapitän eines Segelschiffes. Sehe ich Blitze, zähle ich die Zeit bis zum Donner und weiß, wie weit das Gewitter noch entfernt ist. Schwarze Wolkenbänke am Horizont sind kein Grund zur Panik und nicht gleich Anlass, die Tour abzubrechen. Ich beobachte flatternde Werbebanner an Tankstellen, oder Baumkronen, die sich im Wind wiegen. Daraus leite ich ab, wohin der Wind bläst, und wann Regen zu erwarten ist. Gerate ich in kalte Luftströmungen, die sich unter dunkle Wolken über mir schieben, so weiß ich: Feuchtigkeit wird zu Tropfen auskondensieren, Regen steht unmittelbar bevor. In freier Wildbahn hat die Ausbildung zum Physiker schon Vorteile. Eventuell ändere ich die Route so, dass ich in kurzer Zeit Ortschaften erreiche. Dort finden sich gelegentlich überdachte Bushaltestellen, wo man sich unterstellen kann. Auch auf dem Land gibt es Bushaltestellen, etwa an Kreuzungen von Landstraßen und Zufahrten, die weiterführen zu Gehöften. Die sind oft nicht überdacht – was ich merkwürdig finde. Einmal war ein Landwirt zugegen und meinte bloß, dass da sowieso nie jemand warten würde, deshalb braucht´s auch kein Dach. Der Bus käme zu selten, und es würden eh alle mit dem Auto fahren. Dass ich unterwegs mangels Unterschlupf in Regenschauer gerate und dabei nass werde, ist nicht so dramatisch. Was ich versuche zu vermeiden ist, bei Gewitter die einzige Erhebung auf weiter Flur zu sein.

Ich kann Radprofis und Triathleten verstehen, die ihre Trainingscamps, oder gleich den ganzen Wohnsitz, nach Südafrika, Australien, Südfrankreich, Spanien, auf die Balearen oder auf eine der kanarischen Inseln verlegen. Dort gibt es kalkulierbares Wetter mit längeren Trockenperioden. Es lässt sich das ganze Jahr trainieren, ohne dass bei plötzlichem Starkregen der Carbonrahmen vollläuft oder bei Temperaturstürzen die Finger abfrieren.

5. Der innere Schweinehund

Beruflich entwickele ich Algorithmen und Software. Ich sitze die meiste Zeit vor dem Bildschirm – also ein klassischer Bürojob, für den man sportlichen Ausgleich benötigt. Beim Versuch, regelmäßige Zeiteinheiten freizuschaufeln, wird einem erst bewusst, wie verplant und durchgetaktet der Alltag eigentlich ist.

Der chinesische Philosoph Laotse sagte: „Eine Reise von tausend Meilen beginnt mit dem ersten Schritt!“ Bedeutet: ein großes Ziel in kleine Etappen heruntergebrochen macht das ganze greifbarer. Ihr tut Euch keinen Gefallen, die 5.000 km von vorne herein in Touren von 50 km oder gar 100 km zu stückeln, die Ihr für die Wochenenden aufhebt. Das tut nur weh und wird mittelfristig nichts. Ein Bekannter kann´s bestätigen: vor kurzem wollte er das schöne spätsommerliche Wochenende nutzen und hat sich nach längerem wieder aufs Mountainbike geschwungen. Über 60 km kamen zusammen. Danach hatte er drei Tage lang Schmerzen und lässt das Rad auf absehbare Zeit wieder im Schuppen.

Wie einleitend erwähnt sind es die täglichen Stundenportionen, die das ganze Vorhaben niederschwellig gestalten. In der Anfangsphase kostet es natürlich Überwindung, abends nochmal ins Trikot und auf dem Rad hinaus auf die Straße zu wechseln. Es gibt immer Action Items, die erledigt werden müssen, oder E-Mails, die noch beantwortet werden wollen. Wer dem nachgibt, bleibt schließlich bis lange nach Feierabend darin hängen. Die Alternative ist, früh aufzustehen. Dafür braucht es Motivation, in die Morgendämmerung aufzubrechen, wenn es kalt ist und alle anderen noch in den Federn liegen. Dabei hilft es ungemein, die sieben Sachen am Vorabend so zurechtzulegen, dass man sich morgens im Automatik-Modus ankleiden und zügig aufbrechen kann. Wer erst nach dem Aufstehen mühsam sein Equipment zusammensuchen muss, der weckt nur das ganze Haus auf, und landet womöglich im gemeinsamen Frühstück – dann ist es vorbei. Ich empfehle, unter der Woche beide Varianten auszuprobieren. Und Vorsicht: allzuleicht wandert die ganze Aktion in Richtung Wochenende – zu dem dann familiäre Verpflichtungen oder anderweitige Zusagen die geplante größere Runde zunichte machen können, die sich bis dahin akkumuliert hat.

Wichtig: das private Umfeld, insbesondere die Familie, muss mitspielen, wenn man morgens vor dem Frühstück oder abends nach der Arbeit nochmal draußen ist – und zwar regelmäßig! Das private Umfeld schließt auch den Bekanntenkreis mit ein. Um dem inneren Schweinehund besser beizukommen, hilft es, anderen von seinem Vorhaben zu erzählen. So wird das ganze öffentlich. Man erzeugt eine Erwartungshaltung, und Zuspruch wie auch Bewunderung spornen an!

Diesbezüglich ist im beruflichen Umfeld etwas Vorsicht geboten, damit der Schuss nicht nach hinten losgeht. „Always busy“ ist heutzutage ein Wert an sich, deshalb reagieren Kollegen nicht selten mit „Du musst ja Zeit haben!“ Das klingt zunächst ironisch. Dahinter verbirgt sich aber eine Haltung, die unterstellt, dass man seine beruflichen Aufgaben nicht mehr ganz so ernst nimmt, und sich womöglich schon nachmittags abseilt. Oder man vermutet eine leichte Sinnkrise. Das ist gar nicht so abwegig: wenn einer plötzlich Initiative entwickelt und sich hohe private Ziele steckt, in die er dann viel Energie investiert, sieht das aus wie ein Fehler in der Matrix, ein Bruch der Kontinuität. Irgendetwas stimmt vielleicht nicht. Nicht lange, dann erscheinen die Agenten auf der Bildfläche und fragen: „Ist er etwa nicht mehr glücklich mit seinen Aufgaben, in seinem Job?“

Um Missverständnisse zu vermeiden, lässt sich mit „Framing“ steuern, wie das Vorhaben aufgenommen wird. Die Bemerkung „nach der Arbeit fahre ich noch eine Stunde mit dem Rad an die frische Luft“ kommt ganz anders an als das Statement „dieses Jahr muss ich die 5.000 km Marke reißen, entwickle dabei ungeahnte Kräfte, und wachse schließlich über mich selbst hinaus!“ Ich erinnere mich an einen ehemaligen Kollegen, einen Sportler, der gerne über seine zahlreichen Wettkämpfe berichtete, die er an Wochenenden absolvierte. Mehrdeutige Bemerkungen zu seinen Prioritäten, auch seitens der Führungskräfte, welche über sensible Antennen verfügen, mit denen sie ihr Revier abscannen, blieben nicht aus.

Einen weiteren Grund, warum überdurchschnittlich Aktive vom Radar des Systems erfasst werden können, liefern schon die alten Römer. „Lasst dicke Männer um mich sein“ – ein Zitat, das Julius Cäsar vom Biographen Plutarch zugeschrieben wird. In „Spartacus“ erklärt Peter Ustinov, in der Rolle des Batiatus im Dialog mit dem misstrauischen Crassus, dass Korpulenz zu Trägheit und zu Müßiggang verleite. Beide Aussagen adressieren den gleichen Zusammenhang: von beleibten Müßiggängern geht keine Gefahr aus – von der anderen Sorte hingegen schon! Deshalb fürchtete Julius Cäsar eher die Mageren im Senat. Die Geschichte gab ihm Recht. Über zweitausend Jahre altes Erfahrungswissen. Wer will dem widersprechen?

Zurück zur Gegenwart: Triathleten, die Übersportler aus der obersten Liga, können ein Lied davon singen. Triathleten stehen für starke intrinsische Motivation, Durchhaltevermögen, Fokus und Resilienz. Eigentlich der Traum jedes Arbeitgebers. Wie mir ein paar Extremsportler am Rande einer Veranstaltung erzählt haben, sähe die Realität manchmal anders aus: wer hat schon gerne Ironman in der Abteilung? Dann beantragen sie auch noch vier Wochen Urlaub am Stück für Trainingslager! Wenn der Chef eine kompetitive Persönlichkeit ist, oder womöglich Minderwertigkeitskomplexe hat, kann sich das Klima ändern, wenn man allzu offen sportliche Ambitionen thematisiert. Sich dann erklären zu müssen, ist anstrengend. Sich um des lieben Friedens willen kleiner machen zu müssen, als man ist, auch. Also Obacht!

Es gibt da einen sicheren Indikator, der signalisiert, dass man´s endlich geschafft, und dass sich regelmäßiger Sport zur Routine verfestigt hat: körperliches Unwohlsein, welches sich nach wenigen Tagen ohne Radfahren einstellt und allmählich verstärkt, sollte man weiter faulenzen. Zusammengefasst einige Indizien, dass man in die Liga der Amateur-Rennradler aufgestiegen ist:

– Körperliches Unbehagen stellt sich ein, wenn ein paar Tage ohne Rad vergehen.

– Du kannst über längere Strecken mit E-Bikern mitziehen und diese überholen.

– Andere Rennradfahrer grüßen Dich auf der Strecke.

– Gruppen anderer Rennradfahrer laden Dich ein, einen Verband zu bilden.

– Andere Rennradler schlagen Dir vor, abwechselnd Windschatten zu fahren.

– Du bist nach der Morgenrunde nicht komplett im Eimer, sondern gehst den Tag erfrischt und voller Tatendrang an.

– Die Abendrunde hat Dir gutgetan, Du konntest abschalten und erledigst den Rest des Abends noch Kleinigkeiten. Dein Puls ist nicht auf 180, und Du kannst gut einschlafen.

Radsportler Dr. Ralph Stömmer steht in einem Sonnenblumenfeld.

6. Last but not least private Details mit Hinweisen

Mein Tourenrad ist 27 Jahre alt, Marke Gudereit, Stahlrahmen Größe 60, 3 x 9 Gänge, Gewicht 17 kg. Mein Rennrad ist 13 Jahre alt, Marke BMC Roadracer SL01, Carbonrahmen Größe XL, 2 x 10 Gänge, Gewicht 9 kg. In den jeweiligen Fahrradsegmenten würde ich meine Räder unter Mittelklasse verorten. Den Lenker am Rennrad habe ich mit zusätzlichen Aerobars nachgerüstet, wie man sie von Triathlon-Rennrädern kennt, um für längere Distanzen oder bei Gegenwind eine Alternative zur gewöhnlichen Tieflage zu haben. Um mit den scharfen Glasscherben und dem lästigen Splitt besser klar zu kommen, habe ich die Mäntel beider Räder durch solche mit integrierten Kevlarbändern ersetzt.

Ich erinnere mich, dass einige Wochen und viele Kilometer auf Strecken unterschiedlicher Beschaffenheit mit Steigungen und mit Gefällen nötig gewesen waren, bis ich alles an meinem Rennrad ordentlich eingestellt hatte. Seither passt es wie ein Maßanzug, und ich sitze darauf mindestens so bequem wie auf meinem Tourenrad. Und am Rennrad habe ich Details kennen und einzustellen gelernt, die mir wiederum dabei geholfen haben, mein Tourenrad zu optimieren.

Ich wurde schon gefragt, warum ich mir keine neuen Räder kaufe. Erstens sind beide gepflegt in einem guten Zustand, und zweitens optimal an mich angepasst. Dann ist da noch die emotionale Komponente. Ich habe viel daran geschraubt, repariert, justiert, optimiert. Wir haben gemeinsam viel erlebt, sind viele Kilometer durch dick und dünn gefahren, meine Fahrräder und ich. Vernehme ich unterwegs irritierende Geräusche aus der Mechanik, so bin ich in der Lage, beim Fahren den Ursprung zu lokalisieren und auf die mögliche Ursache zu schließen. Mit den Jahren habe ich gelernt, auf meine Räder zu hören und sie zu verstehen, im sprichwörtlichen Sinne. Wir sind glücklich so, wie es ist. Das ist wie eine Beziehung zwischen Reiter und Pferd. Ein Reiter würde sein Ross auch nicht einfach zum Schlachthof bringen und sich ein neues kaufen, solange das alte nicht unter ihm zusammenbricht.

Natürlich fahre ich zwischendurch neue Räder Probe und schaue, wohin sich Technik und Design von Rennrädern entwickeln. Dabei habe ich festgestellt, dass mir ein neues Rennrad, bei gleichem Kraftaufwand, bestenfalls 2 km/h Geschwindigkeitszuwachs bringen würde. Wenn ich´s krachen lassen wollte und mir eine Zeitfahrmaschine aus der Top-Kategorie zulegen würde, käme ich bei gleichem Kraftaufwand auf etwa 6 km/h Geschwindigkeitszuwachs. Für Profis, bei denen schon Kleinigkeiten ausschlaggebend sind, mag das ja viel wert sein. Woher ich das so genau weiß? Ich bin Physiker und befasse mich mit Fahrzeug- und Geschwindigkeitsmodellen. Für Fahrräder habe ich mir eine einfache kleine Simulation geschrieben, die mit Messdaten kalibriert ist. Cool, nicht wahr?

Bei Wettbewerben, bei denen ich gegen hunderte oder tausende Mitbewerber antrete, lande ich typischerweise im Mittelfeld. Das war bei zahlreichen Breitensportveranstaltungen der letzten Jahrzehnte, beispielsweise den alljährlichen Stadtläufen, eigentlich meistens so. Ich bin Durchschnitt, sozusagen der Otto Normalverbraucher des Breitensports, wohnhaft nahe Zentrum der Normalverteilung. Ich denke, ich bin repräsentativ für die meisten Leser dieses Beitrags. Wenn ich also bei einem Radrennen oder gar einem Triathlon starten würde, könnte ich mit einem neuen Rennrad aus der Top-Kategorie vielleicht von einem hypothetischen Platz 357 auf einen hypothetischen Platz 283 vorrücken. So what? Manche Menschen brauchen den Vergleich, irgendwelche Platzierungen machen sie richtig glücklich. Sie drucken sich die Urkunde aus und hängen sie gerahmt an die Ego-Wall. Das Jahr darauf diegleiche Prozedur. Ein Jahr später wieder. Ich kann mit den paar km/h, die sich für sehr viel Geld zukaufen lassen, wenig anfangen.

Überall dort, wo diverse Aufwände nötig werden, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, ist das sogenannte Pareto-Prinzip, auch bekannt als 80-20-Regel, nicht weit. Die Erfahrung lehrt, dass schon 80% des Ergebnisses mit nur 20% des dafür nötigen Aufwands erreicht werden kann. Die restlichen 20% zur absoluten Perfektion erfordern hingegen nochmal 80% Mühsal. Auf das Radfahren übertragen heißt das, dass es zunächst besser ist, mit geringen Kosten (das sind die ersten 20% Aufwand) das vorhandene Gesamtsystem, bestehend aus Mensch und Fahrrad, zu optimieren (80% Zielerreichung), bevor man sich in Unkosten stürzt (das sind die 80% Aufwand), um mit High-End Equipment vielleicht noch weitere 20% Performance herauszukitzeln.

An dieser Stelle rufe ich einen zentralen Merksatz aus dem ersten Kapitel in Erinnerung: die Potentiale, die es zu heben, und die Hindernisse, die es zu überwinden gilt, liegen zu allererst in einem selbst – und erst sehr viel später beim Equipment. Dass ich so gut drauf und an einem Punkt angelangt wäre, ab dem das Equipment den Unterschied macht, davon bin ich noch weit entfernt – und die meisten anderen Hobby-Rennradfahrer vermutlich auch.

Ich bin 56 Jahre alt, also nicht mehr der Jüngste, 1,87 m groß und wiege 76 kg (letzteres schon vor meiner 5.000 km Challenge). Mein BMI liegt damit bei 22, was nach WHO normalgewichtig ist. Ich gönne mir etwa sieben Stunden Schlaf pro Nacht. Geraucht habe ich nie. Was ich zu Beginn meines Experiments gar nicht auf dem Schirm hatte: meine Oberkörper- und Armmuskulatur hat etwas zugelegt. Vielleicht liegt es daran, dass ich im Sportverein einmal pro Woche für 1,5 Stunden Krafttraining unter Anleitung mache. Vielleicht ist das aber auch ein Nebeneffekt regelmäßigen und ausdauernden Rennradfahrens in der Tieflage, wofür in einem Jahr 148 Stunden zusammenkommen, wie im ersten Kapitel erwähnt. Auf die Woche umgerechnet bringe ich fast 3 Stunden in der Tieflage zu, in der man einen beträchtlichen Teil des Körpergewichts nach vorne verlagert, und das Gesamtsystem mit Oberkörper und Armen stabilisiert.

Ich habe nie darüber nachgedacht, ob regelmäßige Fahrten mit dem Renn- oder Tourenrad die Kilos direkt wegschmelzen, im Sinne von gesteigerter Kohlenhydrat- und Fettverbrennung. Wenn ich mit Leuten meiner Generation, und auch der nächstjüngeren Generation, über Aktivitäten spreche, rücken Übergewicht und die eigene Figur oft in den Fokus. Sport als Waffe im Kampf mit den Kalorien. Abnehmen wollen oder Abnehmen müssen wird zum primären Ziel. Mein primäres Ziel hingegen ist, die Grundlagenausdauer zu erhalten und auszubauen. Dadurch ist mein Lifestyle anders gelagert, und das Aktivitätsniveau führt dazu, dass ich nicht zunehme. Ihr habt den Dreh sicher bemerkt: das Normalgewicht ist nur ein Nebeneffekt, es ist nicht das primäre Ziel. Man ändert zuerst die Sicht auf die Dinge im Leben, alles andere ergibt sich. Bei gleichem Weg zur Arbeit steigen die einen morgens ins Auto, die anderen aufs Rad. So fängt alles an. Vielleicht verbirgt sich darin der Schlüssel zum Erfolg für viele, die noch scheitern.

Ich ernähre mich vernünftig, Tendenz vegetarisch. Ich verzichte auf Alkohol, und vermeide Fastfood sowie Ultraprocessed Food, beispielsweise Pommes oder so Schlonz wie Fertigpizza oder Lasagne vom Discounter, die aus dem Kühlfach direkt in der Mikrowelle landen. Für längere Touren löse ich mir eine Magnesium-Brausetablette in einem Glas Wasser auf, ansonsten verschone ich meinen Stoffwechsel mit Nahrungsergänzungsmitteln. Energy-Drinks nehme ich nicht, nicht mal auf längeren Touren mit dem Rennrad.

Für unterwegs habe ich gewöhnliche Schoko- und Müsliriegel einstecken und je nach Distanz ein bis zwei Trinkflaschen mit Wasser am Fahrrad. Der Triathlet Jan Frodeno, dreifacher Ironman Hawaii Sieger, nimmt angeblich nur einen Espresso zu sich, bevor er zu seiner Morgentour in die Pyrenäen aufbricht. Hinterher mixt er sich diverse nahrhafte Shakes. So weit bin ich noch nicht, aber ich arbeite daran! Durch die morgendlichen Ausfahrten hat sich mein Frühstück zur größten Mahlzeit des Tages entwickelt, zu der ich Mengen in mich hineinschaufele wie ein fünfzehnjähriger Teenager im Wachstumsschub. 

Gelegentlich wollten Bekannte, die von meiner 5.000 km Challenge erfahren haben, auf das Vorhaben aufspringen und mitfahren, um fit zu werden und – der Klassiker – um abzunehmen! Meistens blieb es dann bei einigen wenigen Versuchen. Ein einziger hat immerhin fünf Touren mitgezogen, doch letztlich mit drangeblieben ist keiner. Was sind die Gründe?

Ein paar wollten beweisen, dass sie´s drauf haben, und sind gleich mal viel zu schnell gefahren. Mancher sogar etwas voraus, um dann an der nächsten Abzweigung auf mich zu warten. Ein Verhalten, das man vielleicht von Wanderungen mit Kollegen auf Firmenausflügen kennt. Es gibt immer welche, die vorpreschen müssen. Ich hatte erklärt, zunächst mäßig anzufangen und dann die Leistung langsam zu steigern – aber egal. Im Nachgang folgten Schmerzen im Rücken, im Gesäß, den Schultern und den Armen. Der Kandidat mit dem Rücken war erst nach einigen Wochen wieder im Lot. 

Unisono haben alle Abbrecher folgenden Grund ins Feld geführt: wenig bis gar keine Zeit, regelmäßig aus dem Alltag auszubrechen! Ich erinnere an das relative Zeitbudget von 4% beziehungsweise 6% zu Beginn des Berichts. Objektiv betrachtet relativiert sich damit das Problem – an Zeitmangel liegt es wahrscheinlich nicht. Es sind eher die Prioritäten des Augenblicks und der Umstand, dass der normativen Kraft des Faktischen nachgegeben wird. Daheim irgendwelchen Kleinigkeiten nachzugehen ist niederschwelliger – anders formuliert bequemer – als mit dem Rad nach draußen aufzubrechen!

Apropos bequemer: es war nicht lange nach Ende der gemeinsamen Ausfahrten, da habe ich auf einer meiner Morgentouren einen Bekannten wiedergetroffen, der vor einer Bäckerei in der Schlange stand. Seiner Position in der Schlange nach zu urteilen war er schon länger dort. Und dem Kunden-Abfertigungstakt nach zu urteilen hätte er lieber mitradeln sollen. Ungeduldiges Warten zählt zu den kräftezehrendsten Inaktivitäten überhaupt. Der Körper gerät im Standgas auf Hochturen, nichts tun zu können ist alles andere als bequem. Man denke an Konzertkarten oder den Release des neuesten iPhone. Wahrscheinlich kollabieren mehr Menschen beim Schlangestehen für Dinge, die sie unbedingt haben müssen, als beim Radfahren. 

Vielleicht schlägt auch eine kognitive Verzerrung zu, die in der Verhaltensökonomie als „Mental Accounting“ bezeichnet wird. Aktivitäten werden in völlig unterschiedliche Kategorien sortiert, was den objektiven Vergleich damit verbundener Aufwände erschwert. Bedeutet: für manche ist eine Tour mit dem Rad so besonders und gleichzeitig so fremd wie ein Flug zum Mond! Einer meiner Nachbarn ist ein leuchtendes Beispiel. Vor Jahren hat er sich für Heidengeld ein Rennrad der Oberklasse inklusive allem dafür nötigen Schnickschnack zugelegt. Dann wollte er das passende Wetter abwarten, um seine Maschine zu testen. Das passende Wetter kam aber nicht. Seit jenem denkwürdigen Kauf saß er nie wieder auf dem Rennrad. Er bekundet nach wie vor seine Absicht, wenn er mich sieht, und sagt: „Dafür braucht´s den richtigen Moment!“ Dieser richtige Moment ist inzwischen so mit Bedeutung überladen, dass er übermächtige Ausmaße angenommen hat! Wenn ich ihn höre, dann weiß ich: dieser Moment wird nie mehr kommen. Er weiß das vermutlich auch.

Ein Abbrecher nannte, neben dem obligatorischen Zeitmangel, einen weiteren faszinierenden Grund: Schuldgefühle! Ihm war klar, dass das lächerlich und nach Ausrede klingt. Bei der Morgenrunde war ihm einfach nicht wohl dabei, sich von zuhause und von der Arbeit weg ins weite Land zu entfernen – während sich die anderen für den Tag und den Sprung ins Getümmel klar machen. Was alle tun, kann so falsch nicht sein. Ein neuer Aspekt: die Fahrradtour als Fahnenflucht! Seine erratischen Smartphone-Checks haben verraten, dass ihn das ganze stresst und er lieber woanders wäre – vielleicht besser, doch die Abkürzung zu nehmen? Eine Woche später haben wir eine Abendrunde versucht, die verlief aber auch nicht viel anders. Ein Fall von FOMO, fear of missing out. Es blieb bei zwei Versuchen.

Und schließlich kommt noch obendrauf: keine Geduld mit dem Sport! Beim Abnehmen werden schnelle Resultate erwartet – eine Belohnung, die nicht aufgeschoben werden kann. Ein weiterer Abbrecher hat sich schon nach der ersten Tour auf die Waage gestellt. In Summe spiegeln sich die Verhaltensmuster vieler Übergewichtiger wider, welche sich bis in die Ernährungsgewohnheiten fortsetzen. Durchhaltevermögen sowie die Fähigkeit zum Verzicht unterscheidet die Jäger von den Sammlern.

Vielleicht ist es nur eine subjektive Wahrnehmung, aber ich habe über die Jahre festgestellt, dass gerade dauerhaft übergewichtige Mitmenschen besonders gut über neueste Diäten, aktuelle Ernährungstrends, Wellness und Kuren, Lebensweisen im Einklang mit irgendwas sowie gesunde Bewegung an der frischen Luft Bescheid wissen, und sich selbst und ihr Umfeld permanent damit beschäftigen. Manche machen ihr Syndrom sogar zum Beruf und arbeiten als Ärzte, als Physiotherapeuten oder in der Ernährungsberatung. Mein Verdacht: das Problem wird rationalisiert, um es nicht lösen zu müssen – also ein Ablenkungsmanöver! Mantras zu Fitness, richtiger Ernährung und Gesundheit wirken wie akustische Rauchbomben. Sie vernebeln Nichtstun und sollen notwendige Maßnahmen kompensieren. Ich erkläre mir das so: regelmäßiger Sport ist eine Investition in die Gesundheit, deren Ergebnis in der Zukunft liegt. Doch Sammler leben von der Hand in den Mund, brauchen ihre Belohnung sofort. Bei diesen Themen traue ich keinem, der auffällig Übergewichtig und unsportlich ist. Face the facts: wer selbst tatsächlich das glaubt, was er sagt, und auch lebt, was er glaubt, der sieht anders aus.

Womöglich ist es auch die Angst vor einem Perspektivwechsel auf das eigene Leben, welche einige davon abhält, regelmäßig Sport zu treiben. Es läuft doch alles rund – warum also das Bisherige in Frage stellen? Wenn sich Prioritäten verschieben, geraten Gewohnheiten aus den Fugen. Um das soziale Umfeld zu verunsichern, reicht es schon, die Ernährung zu justieren. Im Kleinen könnt Ihr das beim Essen mit Freunden austesten: Kein Wein zum Hauptgericht? Kein Dessert als Nachtisch? Stimmt was nicht? Schmeckt´s nicht? 

Beim Verlassen der Komfortzone nach draußen merkt Ihr vielleicht, dass von der Arbeit in geschlossenen Räumen einmal abgesehen viele gemeinsame Freizeitaktivitäten indoor fixiert sind. Das Fitnesscenter mit den Sportgeräten und die ganzen Yoga-, Gymnastik-, und Pilates-Kurse sind indoor. Früher war man in der Fußgängerzone bummeln, heute geht man in die Shopping Mall – wieder indoor. So schön Museen, Konzerte, Kinos und Ausstellungen auch sein mögen – alles indoor. Und endet der gemeinsame Tag dann nicht wieder im Restaurant? Unsere Vorfahren waren die meiste Zeit des Tages draußen. Bei uns ist es umgekehrt. Auf Dauer keine artgerechte Haltung!

Aus eigener Erfahrung kann ich Euch nur dazu ermutigen, wenigstens eine Stunde am Tag aufs Rad zu steigen. Der Körper wird es danken! Ihr stärkt damit schon mal das Immunsystem – das ist für die meisten sicher nichts neues. Aber vielleicht das: da sich Dinge in Bruchteilen von Sekunden abspielen, schärft Ihr den Blick und schult Euer Reaktionsvermögen. Unterschätzt das nicht! Parkende Fahrzeuge sehe ich mit ganz anderen Augen. Ich mache mir beispielsweise die Seitenspiegel von Autos zunutze, kehre den optischen Pfad um und evaluiere, ob da jemand drinsitzt, gleich aussteigt und die Tür in den Weg klappt. Gleichzeitig vergewissere ich mich zur Seite und nach hinten, ob für ein Ausweichmanöver genug Platz ist. Auf dem Rad wird es zu einer Überlebensfrage, die Fähigkeiten und Grenzen anderer blitzschnell einschätzen zu können. Insgesamt bin ich reaktionsschneller geworden. Ich registriere aus dem Augenwinkel heraus mehr Kleinigkeiten. Das hilft mir auch im Alltag: seit einiger Zeit fange ich wieder Dinge im freien Fall auf, die versehentlich vom Tisch rollen.

Ihr trainiert Eure Balance und Koordination. Beides sind Fertigkeiten, die mit dem Ende der Jugendphase noch nicht bei allen ausgereift sind. Manche entwickeln richtig Stress und haben Schwierigkeiten, konsequent rechts zu bleiben ohne ins Schlingern zu geraten, wenn man links überholen möchte. Gelegentlich bin ich fasziniert, wie es für Erwachsene eine Herausforderung darstellen kann, mit dem Rad einfach geradeaus oder nebeneinander zu fahren. Dass sie deshalb lieber das Auto nehmen, um von A nach B zu gelangen, beruhigt mich nicht wirklich. Es macht einen großen Unterschied, ob man in der Lage ist, kontrolliert einer gedachten Trajektorie zu folgen, oder ob man sich erratisch nach vorne arbeitet. Ihr kennt den Spruch „if you don’t use it, you lose it”. Radfahren unterstützt Euch dabei, die für Balance und Koordination nötigen Gehirnregionen zu reaktivieren. 

Wenn Ihr regelmäßig radelt und konsequent dranbleibt, justiert sich mittelfristig sogar der Stoffwechsel. Das macht sich in der Arbeit bemerkbar, wenn Euch herausfordernde Aufgaben und lange Besprechungen kaum noch stressen, da Euer Körper nicht mehr so schnell in den Unterzucker fährt. In der Freizeit werdet Ihr feststellen, dass es Euch beispielsweise nichts mehr ausmacht, unterwegs Biergärten links liegen zu lassen, an denen kein Sammler vorbeikommt, ohne einzukehren und wenigstens ein Schnitzel zu verdrücken.

Vorhaben, die auf Ausdauer angelegt sind und etwas Risiko beinhalten, bieten eine gute Gelegenheit, den Freundeskreis neu zu sortieren. Aufgrund Disposition suchen Sammler stets die Nähe zu Menschen, von denen sie profitieren können. Zusagen zu gemeinsamen Touren kommen daher relativ schnell. Allerdings erstreckt sich ihr Bedürfnis nach Sicherheit über regelmäßige warme Mahlzeiten hinaus auf sämtliche Aspekte des Lebens. Bedeutet: auch Absagen erfolgen sehr kurzfristig, wenn sich bessere Optionen ergeben oder irgendwas nicht passt, weil es draußen kalt ist oder weil die Wetter-App 30% Regenwahrscheinlichkeit meldet. Und weil das Ganze hintenraus nicht mit einer Reservierung im Restaurant abgesichert ist, heißt das: Eure gemeinsame Aktion hat von vornherein schlechte Karten!

Sammler sind per se keine schlechten Menschen – es gibt nur so viele davon! Ihr Einfluss auf die Gesellschaft ist enorm. Erreichen Sammler eine kritische Masse, können ganze Volkswirtschaften in Schräglage geraten. Über die Ursachen wird viel spekuliert. Die einfachste Hypothese, nach Ockham somit die wahrscheinlichste, ist die vom verarmten Genpool. Zahlreiche Auswanderungswellen von Wagemutigen und von Glücksrittern in die neue Welt sind nicht ohne Konsequenzen geblieben für all diejenigen, die daheim zurückgelassen wurden. Neurobiologen wissen aus Experimenten mit Nagetieren, dass Angst und Risikoscheu epigenetisch an die Nachkommen weitervererbt werden. Wundert Euch also nicht, sollten die Sammler womöglich schon in der Überzahl sein.

Tipp: wenn Ihr Mitstreiter unter Euren Bekannten sucht, dann konzentriert Euch auf die Individuen, die eher ungewöhnlichen Berufen nachgehen, und die auch mal ohne Plan auf Risiko loslegen. Die den Tag nicht ums Essen herum organisieren. Die ausgefallene Hobbys pflegen, und die sich im Urlaub auch mal in weniger komfortable Regionen abseits der bekannten Mainstream-Locations vorwagen. Wenn sie dann noch wetterfest sind und regelmäßig Outdoor-Aktivitäten nachgehen, sind das gute Voraussetzungen. Passgenau sind natürlich solche, die ebenfalls Radsport betreiben.

Und seid nicht entmutigt, solltet Ihr am Ende alleine aufbrechen. Das macht Euch nur noch stärker! Andere Radler, die Ihr häufiger antreffen werdet, sind vermutlich genauso ambitioniert wie Ihr und eher vom Typus Jäger – also Menschen, die sich dem Ungewissen stellen, die geduldig sind und dranbleiben, und die nicht nur durch dick, sondern auch durch dünn gehen. Wer wochentags frühmorgens oder abends unterwegs ist, wird bald feststellen: zu ungewöhnlichen Zeiten trifft man auf ungewöhnliche Leute!

Einer kann´s bezeugen: ich hatte Tobias, der mich eingeladen hatte, mit seiner Rennradfahrer-Gruppe einen Verband zu bilden, mal gefragt wie er die Leute eigentlich gefunden hat. Ein paar kannten sich bereits von früher aus einem Verein, einige andere hat er aufgelesen wie mich. Die meisten hätten etwas gemeinsam, wie Tobias erklärte: es wären Leute mit „purpose“, die sich immer wieder aufraffen. Da ist was dran!

Dann sind da noch die Momente, für die bremst man selbst auf dem Rennrad ab und hält inne, siehe Abbildungen unten. Warum wir Menschen gerne in die Weite blicken, ist in unseren Genen verankert, seit unsere Vorfahren vor vielen Jahrtausenden aus Afrika hierher gekommen sind, und wahrscheinlich noch sehr viel länger. Und wie die Wissenschaftler herausgefunden haben, sind die Augen entwicklungsgeschichtlich ein lichtempfindlicher Teil des Gehirns, der nach vorne ausgelagert ist. Der physische Blick in die Ferne führt dazu, dass sich auch die inneren Horizonte erweitern. Das sind Eindrücke, die sich einprägen, und die einen für die Disziplin entlohnen, die man an den Tag legt.

Und jetzt? Ganz einfach: weg vom Bildschirm, und los geht´s!

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