Viele oder wenige Gänge, kleine oder große Gangsprünge, mit oder ohne Umwerfer – oder gleich ein gekapseltes Getriebe? Die Wahl der richtigen Fahrradschaltung ist keine rein technische, sondern fast schon eine Charakterfrage.
Es gibt die gute alte Drei-Gang-Nabenschaltung, Kettenschaltungen haben heuer bis zu 33 Gänge, auch kombinierte Ketten-Getriebe-Schaltungen sind im Angebot, manche Schaltung funktioniert automatisch, andere schalten per Funk und auch per Zahnriemen und Getriebe lässt sich der richtige Gang einstellen. Nie zuvor standen so viele ausgereifte Schaltsysteme fürs Fahrrad zur Wahl. Für jeden Fahrer gibt es das richtige.
Alles eine Typfrage
Für die erfolgreiche Kombination von Mensch und Schaltung gilt das Motto „Gleich und gleich gesellt sich gern“: Die Schaltung sollte dem Nutzer ähneln. Gemütliche Charaktere fahren eine Schaltung mit sehr leichter Übersetzung und greifen mitunter zu halbautomatisch schaltenden Modellen wie etwa der „Dual Drive Pulse“ von Sram (nur an Kompletträdern erhältlich). Wem es im Leben dagegen nicht schnell genug gehen kann, der sitzt wahrscheinlich auf einem Rennrad, am besten mit einer entsprechend auf Tempo und Effizienz gepolten Schaltung. 2016 führt in diesem Fall nichts an der ersten Funkschaltung „Red eTap“ von Sram vorbei. Wer es hingegen einfach mag und die Herausforderung sucht, der fährt vielleicht sogar Singlespeed: stilvoll mit Chris-King-Edelstahlritzel auf dem seidenweich laufenden Titan-Freilauf einer Nabe von White Industries (z. B. „M16“). Diese Beispiele sind jedoch plakativ und drastisch, während die echte Welt mehr Abstufungen hat.
Der ungetrübte Blick
Das Risiko jeder Selbsteinschätzung ist, dass der Blick auf die eigene Person durch einen Wunschfilter passiert: Nicht wer man ist, sondern wer man sein möchte, drängt sich verkleidet als Produktwunsch in den Vordergrund. Neben dem Menschen bestimmt auch die Umwelt die richtige Schaltung. Wo wird das Fahrrad wie eingesetzt? Auch hier lauern Fallen: Kaufe ich das Rad für die Nutzung im Hier und Jetzt oder beginnt die für den Ruhestand geplante Radreise gedanklich bereits, bevor die Master-Arbeit an der Uni abgegeben ist mit dem Kauf des idealen Rades? Möchte ich wirklich mit dem Rennrad ein Jedermann-Rennen fahren oder ist es mir Mittel zur rhythmischen Kontemplation gegen die Sorgen des Alltags? Ist tatsächlich der Alpen-Cross die grobstollige Realität oder nicht vielmehr die kurze Hatz über den Hometrail nach Feierabend? Muss die Schaltung leicht sein, um Olympiagold zu gewinnen oder um bei meinen Freunden Eindruck zu schinden? Bin ich wirklich ein witterungsgegerbter Ganzjahresfahrer oder radle ich in der Realität nur bei gutem Wetter gemütlich zur Arbeit? Kurz: Welche Motive bestimmen meine Wahl der Schaltung wirklich?
Entlarve deine Glaubenssätze
Hinter jedem Motiv steht ein Mangel. Hinter jedem Mangel steht ein Bedürfnis. Und Glaubenssätze modellieren diese Bedürfnisse mit. Glaubenssätze sind scheinbar unverrückbare Haltungen, nach denen man (un)bewusst sein Leben und die damit verbundenen Entscheidungen und Werthaltungen ausrichtet. Auch im Falle der Fahrradschaltung können diese ganz existenzieller Natur sein: „Ich muss immer vorne sein“ oder „Ich darf mich von nichts aufhalten lassen“. Nach diesen Glaubenssätzen werden auch Schaltungen ausgewählt.
Es gibt aber auch Glaubenssätze, die eng an die Technik des Fahrrades gebunden sind: „Je mehr Gänge, desto besser“, lautet ein solcher. „Man sollte immer noch einen leichteren Gang in Reserve haben“ ein anderer oder auch: „Die Schaltung bestimmt, wie schnell ich fahren kann“.
Vertraue den Zahlen – 1
Es sind zwei Schaltsysteme, die gegenwärtig Anlass geben, sich wieder exakt mit Zahlen zu beschäftigen. Der Einfach-Antrieb am Mountainbike und die verschiedenen Getriebeschaltungen.
Lange Zeit dominierten am Mountainbike Kurbeln mit zwei oder drei Kettenblättern, in Kombination mit bis zu elf Ritzeln am Hinterrad ergaben sich so zwischen 15 und 33 Gänge. Das klingt viel und damit gut! Vorsicht, Glaubenssatz: Von den bis zu 33 Gängen sind viele doppelt vorhanden, während andere wegen des extremen Kettenschräglaufes nicht nutzbar sind: Es bleiben maximal neun bis 14 real nutzbare Gänge.
Das bewegt sich wiederum im Spektrum der modernen Einfach-Antriebe mit bis zu zwölf Gängen wie der „Eagle“ genannten Kettenschaltung von Sram (ab 1.306 Euro) oder einer Getriebeschaltung mit bis zu 18 Gängen. Vorteil hier: Die richtige Übersetzung ist mit viel weniger und sehr intuitiver Schaltarbeit gefunden. Statt zwischen verschiedenen Kombinationen aus Kettenblatt und Ritzel zu jonglieren, schaltet der Fahrer von heute die Gänge einfach nacheinander mit einer einzigen intuitiven Bewegung durch.
Einfach-Antriebe sind sehr leicht. Getriebeschaltungen wie das mittig im Hauptrahmen sitzende Tretlagergetriebe von Pinion („P1.18“, nur an Kompletträdern erhältlich) und das vielfach bewährte 14-Gang-Nabengetriebe von Rohloff (z. B. „Speedhub 500/14 CCDB“) überzeugen durch geringe Wartung und extrem niedrigen Verschleiß. Auch lässt sich bei Getriebeschaltungen statt einer Kette ein wartungsarmer Zahnriemen montieren (z. B. Gates „Carbon Drive Belt CDN“).
Vertraue den Zahlen – 2
Wichtig ist auch die Gesamtübersetzungsbandbreite, die angibt, wie stark sich der leichteste vom schwersten Gang unterscheidet. In der Praxis bedeutet das: Welche Steigung lässt sich damit noch bewältigen und bis zu welcher Höchstgeschwindigkeit kann man treten? Beim Rennrad soll es vor allem schnell gehen: Große Übersetzungen sind wichtig. Beim MTB ist das eher anders: Analysen der Trainings-Plattform Strava haben gezeigt, dass Mountainbiker ihre höchsten Geschwindigkeiten rollend und nicht pedalierend erreichen. Umgekehrt fährt der Biker bergauf im zerklüfteten Gelände sehr langsam. Bis zu dem Punkt, an dem Schieben einfacher und schneller ist. Für den Mountainbiker ist die Untersetzung des leichtesten Gangs ein wichtiger Indikator dafür, ob er später mit dem Rad glücklich wird. Diesen vergleicht man schlicht anhand seiner Entfaltung in cm und nicht durch die Anzahl der Gänge des gesamten Antriebs.
Aktuelle Schaltungen fürs E-Mountainbike („EX1“) kommen sogar mit „nur“ acht Gängen bei einer trotzdem großen Bandbreite aus. Klingt wenig, entfaltet in der Praxis aber Vorteile, die jeder Mountainbiker kennt: Während Rennradfahrer bei hohen Geschwindigkeiten feinste Gangsprünge benötigen, um ihren Tritt konstant halten zu können, benötigen Mountainbiker bei geringen Geschwindigkeiten am Berg größere Gangsprünge, um den Tritt konstant zu halten. Beim E-MTB verstärkt sich dieser Effekt durch den Motor nochmals, dadurch kommt man mit weniger Gängen aus. Mehr noch: Große Gangsprünge machen lästiges Überschalten von Gängen unnötig und verringern so Schaltfehler und Verschleiß.
Auch beim Getriebe gibt es Bewegung in diese Richtung. Der schwäbische Anbieter Pinion etwa bietet seine Neun-Gang-Getriebe in zwei Varianten an. Einmal mit kleinen Gangsprüngen und geringerer Gesamtübersetzung („P1.9 CR“, nur an Kompletträdern erhältlich) und einmal mit größeren Gangsprüngen und höherer Gesamtübersetzung („P1.9 XR“, nur an Kompletträdern erhältlich).
Vertraue deinem Gefühl
Letztlich gilt bei der Schaltung wie beim Sattel auch: Gut ist, was sich gut anfühlt. Wer mit seiner Schaltung zufrieden ist, der hat ein gutes Gefühl und damit eine gute Zeit auf dem Rad. Wenn sich die Schaltung komisch anfühlt oder gar einen Defekt hat, ist es Zeit für einen Boxenstopp oder ein Update, bei dem das Matching aus Mensch und Schaltung erneut – und besser – hergestellt werden kann. Probieren Sie einfach mal verschiedene Schaltsysteme aus.
Genieße den Augenblick
Unterwegs sein in der Natur: Auf dem Trail, dem Radweg oder der Landstraße dahingleiten. Den Wind spüren. Sich am Tempo laben. Den eigenen Körper erleben. Der Reiz des Radelns lebt von diesen Momenten. Die Schaltung ist wichtig. Aber der Augenblick ist wichtiger.
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