Zwischen Asphalt, Autofahrern und Alltagsmythen – mein Erfahrungsbericht aus dem Sattel

Manchmal habe ich das Gefühl, mein Rennrad und ich leben in einer eigenen Welt – irgendwo zwischen Fitnessgerät, Fluchtfahrzeug und Zielscheibe.
Ich trete in die Pedale, genieße den Fahrtwind, das Summen der Reifen, das rhythmische Klicken der Schaltung – und dann … Hup.
Ein kurzer, aggressiver Ton.
Ich zucke zusammen, blicke nach rechts, und da sitzt er: der Klassiker.

Fenster unten, Sonnenbrille, Zeigefinger und leider häufig auch der Mittelfinger am Anschlag – bereit zur pädagogischen Intervention:

„Da ist doch ein Radweg, du Depp!“

Ich nicke freundlich, lächle sogar (zumindest äußerlich) und denke mir: „Wenn du wüsstest.“

Willkommen im ganz normalen Wahnsinn zwischen zwei Welten.
Hier, wo ein Meter Abstand über Leben und Lack entscheidet, wo 30 km/h auf dem Tacho für den einen „langsam“ und für den anderen „Rennsport“ bedeutet.
Hier, wo Diskussionen über Radwege, Ampeln und Promillegrenzen oft mehr Energie verbrauchen als die Tour selbst.

Ich habe gelernt: Jeder Autofahrer ist ein Verkehrsexperte, sobald ein Radfahrer in Sichtweite ist.
Und jeder Radfahrer ist ein Gesetzesbrecher – zumindest laut den Kommentaren in sozialen Netzwerken.
Zeit also, ein paar dieser Mythen endlich aufzuklären – mit Paragraphen, Erfahrung und einer gehörigen Portion Humor.

Denn manchmal hilft Lachen mehr als jede Klingel.


Mythos 1: „Ist ein Radweg da, muss er auch benutzt werden!“

Das ist einer der häufigsten Streitpunkte – und der am wenigsten verstandene.

Grundsätzlich gilt:
Nur wenn der Radweg mit einem blauen Verkehrszeichen (Nr. 237, 240 oder 241) gekennzeichnet ist, besteht Benutzungspflicht.

Ohne Schild: freie Wahl.
Mit Schild: Pflicht – aber nur, wenn der Weg „zumutbar“ ist.

Und genau da beginnt die Diskussion.

Deutsches Verkehrszeichen: Radweg
Nur wenn der Radweg mit einem blauen Verkehrszeichen (Nr. 237, 240 oder 241) gekennzeichnet ist, besteht Benutzungspflicht. © AdobeStock – carso80

Was bedeutet „zumutbar“ eigentlich?

Die StVO (§ 2 Abs. 4 Satz 2) sagt dazu nur, dass der Weg benutzbar sein muss – das Verwaltungsgericht Köln und andere Gerichte haben das konkretisiert:

Ein Radweg ist nicht zumutbar, wenn er

  • massiv beschädigt ist (Schlaglöcher, Wurzeln, Frostaufbrüche),
  • zu schmal ist, um sicher überholt zu werden (unter 1,50 m Breite),
  • ständig zugeparkt oder voller Hindernisse ist,
  • oder Sichtbehinderungen und Gefahrenstellen aufweist.

Auch das subjektive Sicherheitsgefühl spielt eine Rolle: Wenn man mit 30 km/h auf dem Rennrad zwischen Mülltonnen, Laternenpfosten und Bordsteinkanten hindurchkurven soll, ist das schlicht nicht sicher – und somit nicht zumutbar.

Und was sagen Autofahrer dazu?

Für viele klingt das wie eine Ausrede:

„Da war doch ein Radweg, warum fährt der Depp auf der Straße?“

Die Wahrheit ist: Viele Radwege sehen nur von Weitem gut aus.
Aus dem Auto heraus wirkt der Asphaltstreifen neben dem Gehweg oft wunderbar glatt – bis man selbst draufsitzt und merkt, dass jeder Meter wie ein Kopfsteinpflastermassaker vibriert.

Darum ist es kein Zeichen von Trotz, wenn Radfahrer auf der Straße fahren – sondern schlicht gesetzlich erlaubt, wenn der Radweg objektiv oder subjektiv nicht sicher ist.

Oder, wie ich es nenne: Selbstschutz mit Paragraphenunterstützung.


Mythos 2: „Kinder dürfen auf dem Gehweg fahren“

Ja – aber nur bis 10 Jahre.
Unter 8 müssen Kinder dort fahren, zwischen 8 und 10 dürfen sie dort fahren.
Danach gilt: Ab auf die Straße oder den Radweg!
Und Eltern? Dürfen Kinder unter 8 Jahren auf dem Gehweg begleiten. (§ 2 Abs. 5 StVO)


Mythos 3: „Radfahrer dürfen sich an roten Ampeln nach vorn schlängeln“

Teilweise richtig.
Wenn rechts genug Platz ist und keine Gefahr entsteht, darf man vorsichtig nach vorn rollen – bis zur Haltelinie.
Und wenn’s eine Fahrradaufstellfläche gibt, ist das sogar ausdrücklich erlaubt.

Ich nenne sie die „VIP-Zone für Schwitzende“ – direkt vor der Motorhaube.


Mythos 4: „Betrunken fahren hat keine Folgen“

Falsch – und gefährlich.
Ab 0,3 Promille mit Ausfallerscheinungen wird’s strafbar, ab 1,6 Promille droht die MPU.

Und wer glaubt, nach drei Weizen locker heimzukommen, sollte sich an den Bordstein lehnen – und das Rad lieber schieben.


Mythos 5: „Rennräder und Pedelecs dürfen immer auf der Straße fahren“

Nur teilweise.
Auch Rennräder und Pedelecs (bis 25 km/h) müssen benutzungspflichtige Radwege nutzen.
S-Pedelecs (bis 45 km/h) hingegen gelten als Kleinkrafträder und dürfen nicht auf Radwegen fahren.


Mythos 6: „Radfahrer dürfen nie nebeneinander fahren“

Doch, dürfen sie – wenn sie niemanden behindern. (§ 2 Abs. 4 StVO)
Im Stadtverkehr, wo ohnehin alles steht, ist das vollkommen egal.
Auf der Landstraße mit 70 km/h – da bitte hintereinander.

Aber ganz ehrlich: Zwei Radfahrer nebeneinander sind immer noch leiser als ein SUV mit Sportauspuff.


Mythos 7: „Radfahrer müssen immer ganz rechts fahren“

Nein.
„So weit rechts wie möglich“ bedeutet nicht, dass man jede Glasscherbe mitnimmt.
Radfahrer dürfen einen Sicherheitsabstand zu parkenden Autos halten – etwa 1 Meter, um nicht in die „Dooring-Zone“ zu geraten.


Mythos 8: „Radfahrer zahlen keine Steuern“

Klassiker.
Natürlich zahlen Radfahrer Einkommen-, Mehrwert- und oft auch Kfz-Steuer – weil viele auch Autofahrer sind.
Straßen sind öffentlich finanziert, nicht privat.

Die Straße gehört uns allen – ganz egal, ob mit zwei oder vier Rädern.


Mythos 9: „Lichtpflicht gilt nur nachts“

Falsch.
Auch tagsüber muss die Beleuchtung funktionieren.
Abnehmen oder ausschalten darf man sie nur bei ausreichender Helligkeit.
Und ja – auch auf dem Rennrad. Batterielampen zählen, wenn sie fest montiert oder mitgeführt werden.

Beleuchtung am Rennrad und Fahrrad
Beleuchtung am Rennrad und Fahrrad. © AdobeStock – Lazy_Bear

Mythos 10: „Handzeichen sind optional“

Ganz klar: Pflicht.
Wer abbiegt oder die Spur wechselt, muss das anzeigen (§ 9 StVO).
Einmal kurz die Hand heben kann Leben retten – oder wenigstens Diskussionen vermeiden.


Mythos 11: „Ein bisschen Platz beim Überholen reicht schon“

Ganz und gar nicht!
Seit 2020 schreibt die StVO klar vor:

  • Mindestens 1,5 Meter Abstand beim Überholen innerorts
  • Mindestens 2 Meter Abstand außerorts

Wer also glaubt, dass 30 Zentimeter reichen, liegt nicht nur falsch – er gefährdet Leben.

Und ja: Auch, wenn kein Gegenverkehr kommt, gilt der Mindestabstand.
Bei Engstellen heißt das: hinterherfahren und warten.

Ich weiß, Geduld ist nicht jedermanns Stärke – aber sie rettet Leben und spart Lackschäden.

In Deutschland gibt es keine allgemeine Helmpflicht für Radfahrer.
In Deutschland gibt es keine allgemeine Helmpflicht für Radfahrer. © AdobeStock – Pixelzone

Mythos 12: „Helmpflicht für Radfahrer!“

Ein Dauerbrenner.
Nein – in Deutschland gibt es keine allgemeine Helmpflicht für Radfahrer.
Aber: Wer ohne Helm stürzt, trägt das eigene Risiko.
Gerichte haben entschieden, dass das nicht automatisch „Mitverschulden“ bedeutet – solange kein ungewöhnlich riskantes Verhalten vorlag.

Trotzdem gilt: Gehirn ist teuer, Helm ist günstig.


Mythos 13: „Beim Abbiegen reicht es, kurz zu schauen“

Leider ein häufiger Irrtum.
Beim Abbiegen nach rechts müssen Autofahrer auf Radfahrer achten, die geradeaus fahren – das nennt man „toter Winkel“.
Aber auch wir Radfahrer haben Pflichten:

  • Handzeichen geben,
  • nicht blind links abbiegen,
  • auf nachfolgende Fahrzeuge achten.

    Die meisten Unfälle passieren beim Abbiegen, nicht beim Überholen – und fast immer, weil einer von beiden nicht geschaut hat.
Autofahrerin gefährdet beim Abbiegen einen Radfahrer.
Autofahrerin gefährdet beim Abbiegen einen Radfahrer. © AdobeStock – Dan Race

Der tägliche Wahnsinn auf den Straßen

Jeder Radfahrer kennt es:
Der hupende Autofahrer, der Zentimeter-Überholer, der Schulterblick-Verweigerer.
Und genauso den Autofahrer, der freundlich wartet, lächelt und Platz lässt.

Das Problem ist selten Böswilligkeit – größtenteils ist es Unwissen.
Viele glauben, Radfahrer dürften etwas nicht, das sie in Wahrheit müssen.

Und schon beginnt das Drama an der Ampel oder im Kommentarbereich.


Fazit: Weniger Hupen, mehr Wissen

Verkehr ist kein Wettkampf.
Radfahrer sind keine Hindernisse, Autofahrer keine Gegner.

Ein wenig mehr gegenseitiges Verständnis – und die Straßen wären halb so laut und doppelt so sicher.

Aber über Paragraphen und Regeln hinaus geht es eigentlich um etwas viel Wichtigeres: Respekt.
Denn egal ob hinter dem Lenker oder auf dem Sattel – am Ende wartet immer jemand zu Hause,
der uns liebt, der uns vermissen würde, wenn etwas passiert.

Und genau deshalb sollten wir alle – Radfahrer, Autofahrer, Fußgänger –
nicht nur mit Rücksicht fahren, sondern mit Wertschätzung füreinander.

Ein kurzer Blick, ein Nicken, ein Lächeln – manchmal braucht es nicht mehr,
um aus einer potenziell gefährlichen Begegnung einen Moment echter Menschlichkeit zu machen.

Also: weniger Ego, mehr Empathie.
Denn das Leben ist zu kurz, um sich über eine rote Ampel, einen Meter Abstand oder fünf Sekunden Zeitverlust zu streiten.

Radfahrer sind keine Hindernisse, Autofahrer keine Gegner.

Autor:
Ein leidenschaftlicher Rennradfahrer mit engen Hosen, Klickpedalen, Sonnenbrille – und dem verdächtigen Hang, mit 30–40 km/h auf der Landstraße zu rollen. Und dazu noch mit Sinn für Ironie, Paragraphenkenntnis und der Hoffnung, dass der nächste Autofahrer ihn nicht für einen Gesetzlosen in Lycra hält.


JÖRG LACHMANN
Ich bin ein kreativer, konzeptionsstarker und querdenkender Vollprofi in allen Bereichen des On- und Offline-Marketings (B2B/B2C) . . . und somit (wie wohl auch nicht anders zu erwarten) beruflich als Marketing- und Vertriebsleiter bei der Firma IDV GmbH angestellt. Da ich schon seit vielen Jahren dem Hobby Radsport verfallen bin, habe ich mich im April 2014 dazu entschlossen, das Online-Magazin "ilovecycling.de" mit „Herz” und vielen nützlichen Themen, Infos, Tipps und Tricks rund um den Hobby- und Jedermann-Radsport ins Leben zu rufen.

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